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Loren Goldner, 2. Juli 2014

»Fährt Rußland fort, den Weg zu verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat, so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Systems durchzumachen.« (Karl Marx, Brief an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski, November 1877; MEW 19, S. 108)

»Der Sozialismus bewies sein Recht auf den Sieg nicht auf den Seiten des ‘Kapital’… nicht in der Sprache der Dialektik, sondern in der Sprache des Eisens, des Zements und der Elektrizität.« (Trotzki, Die Verratene Revolution, 1936)

Begraben unter fast einem Jahrhundert Ideologie stellt sich nach wie vor die »russische Frage«, die Frage nach der historischen Bedeutung der Niederlage der russischen Revolution. Der Weltkapita- lismus steckt seit den 1970er Jahren in einer nicht enden wollenden Krise, aber trotz allen Gegen- winds seit der Finanzkrise 2007/08 behauptet die herrschende Ideologie immer noch: »Gewöhnt euch dran; es gibt keine Alternative zum Kapitalismus.« Und doch ist für jeden, der sich Gedanken über eine Alternative zur ringsum zu sehenden zerfallenden Welt macht, selbst in der unauslotbaren historischen Amnesie der Gegenwart die Frage »Was ist in Russland schief gegangen?« nie allzu weit weg von der Oberfläche.

Der folgende Artikel soll nicht die Debatten der 1960er und 70er Jahre über den »Klassencharakter der Sowjetunion« wieder aufwärmen, so wichtig diese Debatten vielleicht auch waren und in gewis- ser Weise immer noch sind. Das ist 40 Jahre her und in der heutigen Welt von Postgeschichte, Post- moderne, Identitätspolitik, Weltsozialforum und NGOs ist ein ganzer, vielen Leuten gemeinsamer Bezugsrahmen verloren gegangen. Er ist natürlich verloren gegangen, weil er nicht mehr dazu zu taugen schien, sich in der gegenwärtigen Welt zurechtzufinden, speziell nach 1989-91.

Der Artikel ist aus einer Reihe von Vorträgen entstanden, die ich im Sommer 2013 zur russischen, deutschen, chinesischen und spanischen Revolution gehalten habe.2 Bei der Lektüre zur Vorberei- tung dieser Vorträge fiel mir auf, wie die politische Leere der letzten 40 Jahre unsere Fähigkeit be- einflusst hat, diese Revolutionen auf heutige Entwicklungen zu beziehen. Und erst recht dachte ich an all die alternativen Strömungen – Anarchismus, Anarchosyndikalismus, revolutionärer Syndika- lismus, die IWW, Rätekommunismus – die letztlich vom Bolschewismus und dem Zugriff der III. Internationale plattgewalzt wurden, bis 1968 eine ganze Epoche zu Ende zu gehen begann. Tatsächlich sollte der Artikel der 1. Teil einer dreiteiligen Serie werden: 1) die revolutionäre Epoche von 1917-23 und der letztlich verheerende internationale Einfluss der russischen Revolution am Beispiel der ganz frühen kommunistischen Parteien in Frankreich, Deutschland, Italien und den USA, 2) die misslungene Rückkehr der »Avantgardepartei« (Trotzkismus, Maoismus) in der Zeit von 1968 bis 1977 und 3) die fortlaufende Neuzusammensetzung der Weltarbeiterklasse und For- men von Arbeiterorganisation und -selbstorganisation heute und morgen.

Als ich darüber nachdachte, warum die nicht-bolschewistischen »Projekte einer anderen Gesell- schaft« historisch fast völlig in Vergessenheit geraten sind, stellte sich mir die (nicht gerade origi- nelle) Frage, warum der revolutionäre Marxismus, zu dem sich (wenigstens in der ideologisierten Variante der II. Internationalen) (scheinbar) hunderttausende, vielleicht Millionen von ArbeiterIn- nen in Massenbewegungen im Westen von den 1880er bis in die 1920er Jahre bekannt hatten, und dann nach Mitte der 1920er Jahre zunehmend eine Perspektive von »Generälen ohne Armee«, klei-

  1. 1  Eine große Hilfe bei diesem Artikel waren John Marot, Henri Simon, James D. White und Hillel Ticktin. Außerdem haben Freunde verschiedene Entwürfe gelesen.
  2. 2  Die Vorträge über Russland und Deutschland sind auf der Website Break Their Haughty Power veröffentlicht (http://home.earthlink.net/~lrgoldner). Für die Vorträge über China und Spanien habe ich ebenfalls in der letzten Zeit auf dieser Website veröffentlichte Artikel über den Maoismus und Spanien benutzt.

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nen, unterschiedlich ausgerichteten Sekten geworden war, die an den Rändern der Massenbewegun- gen der 1930er und 1960er Jahre existierten, aber überhaupt nicht mehr so hegemonial waren, wie es der revolutionäre Marxismus direkt vor und nach dem Ersten Weltkrieg offensichtlich gewesen war. Damals hatte Rosa Luxemburg überall in Deutschland vor großen Menschenmengen gespro- chen; ähnlich erinnert sich Angelica Balabanova daran3, dass sie damals regelmäßig vor Mengen von 5000 Menschen in lauter italienischen Kleinstädten gesprochen hatte.

Mindestens ein Großteil der Antwort auf dieses Rätsel hing mit der »russischen Frage« zusammen. Ich will hier nicht nochmal die spitzfindigen Debatten von vor 40 Jahren wiederholen, ob die Sow- jetunion staatskapitalistisch, bürokratisch-kollektivistisch oder ein degenerierter Arbeiterstaat sei; das Problem lag tiefer. Praktisch alle Protagonisten der damaligen Debatten schienen ziemlich selbstverständlich davon auszugehen, dass Russland 1917 im Prinzip eine voll europäisch- kapitalistische Gesellschaft gewesen sei, bestimmt sehr zurückgeblieben, aber letztlich auf dem gleichen Kontinuum wie die anderen.4 Hatte Trotzki – auf den sich diese Debatten bewusst oder unbewusst mehr als auf sonst jemand bezogen (zumindest unter den meisten antistalinistischen revolutionären Strömungen) – nicht gesagt, dass das zaristische Russland neben einer großen Bevölkerung von bäuerlichen Kleinproduzenten die größten und modernsten Fabriken auf der Welt hatte?5 Hatten nicht die zwei Dutzend bekanntesten Bolschewiki von 1917 (als Stalin völlig unbekannt war, auch wenn er schon eine wichtige Rolle im Untergrundapparat spielte6) Jahrzehnte im Exil in Europa verbracht?

Das Timing schien perfekt zu sein: Der Marxismus war – selbst in ideologischer Form – in den meisten »fortgeschrittenen kapitalistischen« Ländern im Jahrzehnt nach 1917 auf dem Rückzug, nach 1) der russischen Revolution, 2) neuen Massenbewegungen von Arbeitern und v.a. von Bauern in der halbkolonialen und kolonialen Welt von China und Vietnam über Indien bis nach Afrika und nicht zuletzt 3) im Übergang von der formellen zur reellen Herrschaft des Kapitals, was sich mit dem deckt, was einige die »Dekadenz« der kapitalistischen Produktionsweise nennen. Max Eastman beschrieb das bei den Radikalen von Greenwich Village vor 1914 verbreitete Denken in seinen Memoiren so: »Wir lebten in unschuldigen Zeiten hinsichtlich Weltkrieg, Faschismus, Sowjetismus, Führerprinzip oder totalitärem Staat. Nichts von dem, worüber wir redeten, war jemals ausprobiert worden. Die politische Demokratie mit ihren Grundrechten und Freiheiten fanden wir gut und hielten wir für auf alle Zeit gesichert. Von diesem festen Boden aus wollten wir höher hinaus zur betrieblichen oder »echten« Demokratie.«7 Hinzufügen ließe sich noch: Der westliche Marxismus lebte auch in unschuldigen Zeiten hinsichtlich eines erfolgreichen Massenaufstands von drei Millio- nen russischen Arbeitern mit großer Unterstützung von 100 Millionen Bauern, die – gegen sämtli- che russische Marxisten angefangen bei Lenin – in Wirklichkeit keine kapitalistischen Kleinprodu- zenten waren, sondern zum allergrößten Teil in Hauswirtschaften lebten, die nur marginal mit ir- gendeinem Markt verbunden waren; ähnliche Bewegungen mit noch kleineren Arbeiterklassen und größeren Bauernschaften in China oder Vietnam oder Indien; oder heutzutage Massenbewegungen

  1. 3  In ihren Memoiren My Life as a Rebel (evtl. handelt es sich um Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin, Laub, 1927).
  2. 4  An den meisten westlichen Marxisten ist die Tatsache vorbeigegangen, dass sich sowohl Marx als auch Plechanow,Lenin, Trotzki, Luxemburg and später Rjasanov irgendwann einmal mit dem »asiatischen« oder »halbasiatischen« Charakter des zaristischen Staats auseinandergesetzt haben. Siehe den Marx-Text über die Geschichte der Geheim- diplomatie des 18. Jahrhunderts von 1856 (Olle und Wolter, Berlin, 1977, Deutsche Erstausgabe, Mit Kommenta- ren von Bernd Rabehl und D. B. Rjasanov, Herausgegeben von Ulf Wolter, Aus dem Englischen von Walle Bengs u.a. ISBN: 3921241154 / 3-921241-15-4)
  3. 5  Alte Mythen sind hartnäckig. Als britische Investoren diese Fabriken vor 1914 besuchten, stellten sie zwar wirklich fest, dass sie riesengroß waren und dort tausende von Arbeitern beschäftigt waren, aber gleichzeitig waren sie schockiert von der miserablen Produktqualität und dem Fehlen von Techniken wie dem Bessemerverfahren in der Stahlherstellung, das in Großbritannien schon seit den 1860ern verwendet wurde.
  4. 6  In John Reeds Klassiker Zehn Tage, die die Welt erschütterten von 1918 oder in Max Eastmans Dokumentarfilm »From Tsar to Lenin« war Stalin nicht mal am Rande zu sehen. Und doch war er schon im November 1917 einer von nur zwei Menschen – der andere war Trotzki –, die Lenins Büro einfach ohne Termin betreten durften. (East- mans Film wurde Anfang der 1920er Jahre gedreht, aber erst 1937 veröffentlicht und dann auf der ganzen Welt von Stalin-Fans boykottiert. Über wsws.org gibt es den Film als DVD.)
  5. 7  Siehe meinen Artikel zu Eastman auf http://home.earthlink.net/~lrgoldner/eastman.html. 2

in der islamischen Welt, die angeblich (wenigstens) für eine islamische Republik oder gar die Wiedererrichtung des Kalifats kämpfen.
Kurz gesagt erlitt der Marxismus, der vor den 1920er Jahren im Westen eine Massenbewegung ge- wesen war, Schiffbruch auf den Klippen der »russischen Frage« und darüber hinaus an den Realitä- ten der riesigen Bauernbevölkerungen der Welt in Ländern, wo der Kapitalismus noch schwächer entwickelt war als in Russland und wo nach 1914 wenig Entwicklung und eine Menge eindeutiger Rückentwicklung stattfand.

Im Rückblick scheint es klar, dass die Verwandlung des Werks von Karl Marx in eine Modernisie- rungsideologie für Entwicklungsländer oder zurückgebliebene Länder durch seine angeblichen Anhänger, die gleichen Leute, wegen denen er rief: »Ich bin kein Marxist«, einen Großteil der Verantwortung für diesen Schiffbruch trägt. (Ich will damit überhaupt nicht sagen, dass die Mainstream-Marxisten der II. Internationale »falsche Vorstellungen« hatten. Ihre »Vorstellungen« waren untrennbar von ihrer Rolle bei der Entwicklung des Kapitals von seiner Phase der formellen zur reellen Herrschaft, dazu mehr weiter unten.)

Heute wissen wir klarer, als es in den 1960er und 70er Jahren möglich war, dass Marx selbst sich schon stark für die nicht-westliche Welt interessierte8 und insbesondere sagte, dass die Thesen des Kapital und der Theorien über den Mehrwert nur für Westeuropa und die USA galten und andere Teile der Welt durchaus »anderen Wegen« folgen könnten. Der Zusammenbruch des Stalinismus, der Aufstieg eines dynamischen Kapitalismus in China nach 1978 und der Niedergang des »Marxis- mus-Leninismus«, Maoismus und der Dritte-Welt-Entwicklungsideologien fast überall in Asien, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika hat die hinter dem scheinbaren Marsch in Richtung »Modernisierung« unter Leuten wie dem Schah, Nasser, Nehru oder Sékou Touré verborgene große Unterschiedlichkeit und Anpassungsfähigkeit von sozialen Formationen in diesen Teilen der Welt sichtbar gemacht.

Erst 2010 sank der Anteil der Landbevölkerung weltweit unter 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die große Mehrheit derjenigen, die noch auf dem Land leben, sind bäuerliche Kleinproduzenten, Handwerker und ländliche proletarische Tagelöhner. Wenn wir nur Indien und China betrachten, wo zusammengenommen fast 40 Prozent der Weltbevölkerung lebt, ist es klar, dass die »Agrarfrage« im Weltmaßstab zentral für jede Möglichkeit bleibt, einen erneuerten Kommunismus zu schaffen. Das ist umso dringender, als eine Million Menschen täglich vom Land in die Städte der Welt kommen, weil der Kapitalismus ihre Art zu leben immer weniger möglich macht und sie in eine zweifelhafte Zukunft in den Shantytowns der Welt9 oder Chinas 270 Millionen Arbeitsmigranten zieht.

Wenn wir uns wieder mit den politischen und sozialen Realitäten der – historischen wie der heutigen – weltweiten Landbevölkerung befassen, um einen realistischen, nicht an Entwicklungs- ideologien orientierten Marxismus für die Welt nach Stalinismus, Maoismus und Dritte-Welt- Ideologie zu schaffen, dann landen wir auch wieder bei einer anderen, weitgehend vergessenen Dimension von Marx: der Kritik der Trennung zwischen Stadt und Land als einer grundlegenden Entfremdung, der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln im 16. und 17. Jahrhundert als »der« ursprünglichen Entfremdung, die in einer zukünftigen »Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist« (Grundrisse)10 zu überwinden ist, Marx’ Forderung nach einer »allmählichen Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land« (Kommunistisches Manifest) [Forderung Nr. 9], in der die Städte, die ihre Existenz der Zentralisierung des Kapitals verdanken, überwunden werden können, und schließlich die immer drängendere Umweltfrage.
All diese Dimensionen erschließen sich durch eine Beschäftigung mit der Agrarfrage in der russischen Revolution.

  1. 8  Siehe Kevin Anderson, Marx at the Margins (2010) und davon schon Lawrence Krader, The Asiatic mode of production. Sources, Development and Critique in the Writings of Karl Marx (1975), und die von Krader herausgegebenen Ethnologischen Exzerpthefte von Marx (1972, deutsch 1976).
  2. 9  Siehe Mike Davis, Planet der Slums (2006, deutsch 2007).
  3. 10  Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1957/58), Heft III, S. 244.

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I. Karl Marx, Friedrich Engels und die russische Bauernkommune: Ursprünge einer Ideologie

In den 1870er Jahren begann Marx sich ernsthaft für die revolutionäre Bewegung in Russland zu interessieren, teils wegen des (anfangs) überraschenden Anklangs, den sein Werk11 in einem Land fand, das er bis dahin als den riesigen »Gendarm Europas« betrachtet hatte, und mehr noch durch Kontakte mit den russischen Populisten, sowohl wegen ihrer eindrucksvollen Aktionen12 als auch wegen ihrer Briefe an ihn, in denen sie ihn um Rat hinsichtlich Strategie und Taktik baten. Kurzentschlossen legte Marx seine Arbeit an Band 2 und 3 des Kapital zur Seite, brachte sich Rus- sisch bei und verbrachte einen Großteil der letzten zehn Jahre seines Lebens mit der Untersuchung der russischen Landwirtschaft. Diese Wendung in seiner Arbeit versteckte er vor Engels, mit dem er schon sein ganzes Leben zusammenarbeitete. Abgesehen von wichtigen Briefwechseln mit russi- schen Revolutionären schrieb er nie irgendeinen längeren Text über sein neues Interessensgebiet, aber bei seinem Tod hinterließ er zwei Kubikmeter Notizen über Russland.

Was folgte, war ein grundlegender Schritt in der Verwandlung von Marx’ Werk in eine Ideologie, eine Ideologie, deren Einfluss bis in die 1970er Jahre reichte. Als Engels nach Marx’ Tod diese Materialien entdeckte und ihm klar wurde, dass sie der Grund waren, warum Marx das Kapital nicht fertiggestellt hatte, packte ihn die Wut, und anscheinend wollte er sie verbrennen.13

Marx hatte in seiner Forschung zu Russland (und anderen nichtwestlichen Ländern und Regionen14) seine früheren Behauptungen fallengelassen, dass es weltweit einen einzigen Weg der kapita- listischen Entwickung gebe, einen Weg, bei dem »England der Welt den Spiegel ihrer eigenen Zu- kunft vorhielt« [woher stammt dieses Zitat, ich hab es nicht gefunden, d.Ü.]. Er hatte auch erkannt, dass die Gültigkeit seiner bisherigen Arbeiten auf die Bedingungen Westeuropas beschränkt war. Im Zentrum von Marx’ »russischem Weg«15 stand die Bauernkommune oder Mir (auch Obschtschi- na). Anfang der 1840er Jahre war die Mir von dem deutschen Baron Haxthausen gründlich unter- sucht worden. Sein dreiteiliges Werk von 1843 führte zu einer Kontroverse in Russland über die Bedeutung der Mir, an der sich alle intellektuellen Fraktionen Russlands beteiligten: von den rück- wärtsgewandten Slawophilen über den Exilanten Alexander Herzen bis zu den Westlern.16

Dann wurde die Kommune zentral für die Behauptung der Populisten, Russland könne oder sollte die kapitalistische »Entwicklungsstufe« überspringen, ein Gefühl, das von Marx’ Vorwort zur russi- schen Übersetzung des Kommunistischen Manifests von 1882 noch verstärkt wurde17, ganz zu schweigen von der Darstellung der realen Bedingungen in England, die sie im Kapital fanden.

In seiner Entdeckung der immer noch lebensfähigen russischen Kommune schloss Marx wieder an seine Schriften aus den 1840er Jahren über das »Gemeinwesen« an18. Er unterstrich noch einmal,

  1. 11  Die erste fremdsprachliche Übersetzung des 1. Bands des Kapital erschien 1872 auf russisch.
  2. 12  Von 1878 bis 1881 unternahm eine Fraktion der Gruppe Semlja i Wolja (Land und Freiheit) eine Terrorkampagne,mit der die zaristische Regierung praktisch lahmgelegt und schließlich 1881 Zar Alexander II ermordet wurde. Marx unterstützte sie, weil dies unter Bedingungen extremer Repression die einzig verfügbare Kampfform schien, gegen die selbsternannten russischen Marxisten, die in der Sicherheit des Schweizer Exils gelehrte Abhandlungen schrieben. Im Gegensatz zu seinen Anhängern hatte Marx nie Probleme damit, kein orthodoxer Marxist zu sein.
  3. 13  Siehe James D. White, Karl Marx and the Origins of Dialectical Materialism (1994), S. 281.
  4. 14  Siehe dazu noch einmal Kevin Anderson, a.a.O. (2010).
  5. 15  Siehe Teodor Shanin, The Late Marx and the Russian Road (1981) und James D. White, a.a.O., Kapitel 5.
  6. 16  Die antiaufklärerischen Slawophilen idealisierten die Kommune als ewigen Ausdruck einer slawischen Seele;Herzen wusste, dass es solche Kommunen einmal in einem Großteil Europas gegeben hatte, aber er dachte, sie könnte Teil einer russischen Revolution sein; die Westler verhöhnten ihre Bedeutung meist als eine »juristische Spitzfindigkeit« und erwarteten, dass sie mit der Durchsetzung des Kapitalismus verschwinden würde. Tscherni- schewski, der grundlegende soziologische Werke über die russische Gesellschaft geschrieben hatte, idealisierte die Kommune nicht, die er aus seiner Kindheit in einer Provinzstadt kannte, aber er nahm Marx‘ spätere Sichtweise voraus, dass sie in einem revolutionären Aufstand »die Grundlage für eine nichtkapitalistische Entwicklung dar- stellen« könnte. Cf. Esther Kingston-Mann, Lenin and the Problem of Marxist Peasant Revolution (1985), S. 23-24.
  7. 17  »Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.«
  8. 18  Er bezog das ebenfalls auf eigene Erinnerungen an eine ähnliche Germanische Kommune in der Nähe von Trier, 4

dass es beim Kommunismus für ihn in erster Linie um die »materielle menschliche Gemeinschaft« gehe und nicht um forcierte Industrialisierung und produktivistische Fünfjahrespläne.19
Diese Debatte zwischen den selbsternannten Marxisten unterschiedlicher Strömungen und den »ro- mantischen«, »subjektivistischen« Populisten über die Lebensfähigkeit der Mir dauerte bis Anfang des 20. Jahrhunderts, stark verzerrt dadurch, dass Marx’ Untersuchungen zu Russland von Engels totgeschwiegen wurden.20 Sogar einige der Populisten, die Marx’ Briefe über Russlands sich aus der Mir ergebende einzigartige Möglichkeiten erhalten hatten und dann selbst Marxisten geworden waren, beteiligten sich am Schweigen.21 Später behaupteten die Sozialrevolutionäre (SR), die Kon- kurrenten der Bolschewiken, von denen sich viele selbst als Marxisten bezeichneten, die wahren Erben von Marx zu sein, und bezogen sich dabei auf seine totgeschwiegenen Briefe zur Mir.22

Man sollte die Mir nicht romantisieren; Tschernischewski, der sie nahe der Provinzstadt seiner Kind- heit aus der Nähe kennengelernt hatte, hatte eindeutig gemischte Gefühle, ob sie sich als Prototyp des Sozialismus eigne. Trotzdem war er in den 1850er Jahren einer der ersten, die meinten, dass die Mir in Verbindung mit westlicher Technologie nach einer erfolgreichen Revolution in Europa die Grundlage für eine »kommunistische Entwicklung« sein könnte, wie Marx und Engels es später 1882 ausdrückten.

Was genau war die Mir als gelebte Erfahrung für russische Bauern? Franco Venturi, der Autor einer klassischen Untersuchung der populistischen Bewegung in Russland im 19. Jahrhundert, beschrieb, welche Rolle die Mir in den Modernisierungsplänen des zaristischen Staates vor der Emanzipation der Leibeigenen 1861 spielte, die Russland auf den Weg der kapitalistischen Entwicklung bringen sollte, und umriss Themen, die bis zu Stalins Vernichtung der Mir in seinen Kollektivierungen von 1929-32 präsent blieben:

»Die Untersuchung von 1836 hatte gezeigt, wie sehr der in der Leibeigenschaft und der Bauerntradition latent enthaltene Geist der Gleichheit tatsächlich von einer Gruppe von reicheren Bauern untergraben worden war, welche zunehmenden Einfluss auf das gesamte Leben der Obschtschina (oder Mir – LG) zu nehmen begann. Diese Bauern kippten zum Beispiel das Gleichgewicht regelmäßiger Umverteilungen zu ihren eigenen Gunsten und … brachten die Gemeinschaft der ärmeren Bauern unter ihre Kontrolle. Aber die Untersuchung hatte auch gezeigt, wie tief verwurzelt diese traditionellen Formen waren. Die gründlichen Inspektoren waren oft schockiert von der Unordnung, der Vulgarität und der Gewalt, die auf den Versamm- lungen der Mir herrschten, ebenso von ihren zahlreichen offensichtlichen Ungerechtigkeiten. Trotzdem drückten die Bauern eben in der Obschtschina und der Mir jene Vorstellungen über Landbesitz aus, die Kiselev und Périer so beeindruckt und irritiert hatten.23 Durch diese Organisationen, die einzigen, die ihnen zur Verfügung standen, verteidigte sich die Bauerngesellschaft. Die Gemeinschaften unterschieden sich natürlich von Distrikt zu Distrikt und bildeten die gesamte Bandbreite des Bauernlebens ab… Und doch gab es trotz aller Unterschiede einen gemeinsamen Faktor: Die Obschtschina stellte die Tradition und das Ideal der bäuerlichen Massen dar. Wie ließ sie sich da brechen?«24
Die letztere Frage sollten den zaristischen Planern bis 1917 zum Ärger gereichen und stellte später auch die Barriere dar, an der verschiedene bolschewistische Industrialisierungspläne in den 1920er Jahren zerschellten.

Von Engels über Plechanow, den »Vater des russischen Marxismus«, bis zu Kautsky und Lenin ver- breitete sich die lineare, evolutionistische, <«matter-motion«> Sichtweise des »dialektischen Mate- rialismus« als Orthodoxie der II. Internationale. Mit der Konsolidierung des Stalinismus wurde sie

seiner Geburtsstadt, die erst eine Generation vor seiner Geburt verschwunden war, genauso wie seine »bestimmte Negation« von Elemente des germanischen Romatizismus. Cf. James D. White, a.a.O. S. 205-206, in Bezug auf Marxens Brief an Engels vom März 1854, in dem er über das Wiederaufleben kommunaler Formen in Deutschland und anderswo berichtet, fast zwei Jahrzehnte vor seiner Entdeckung der russischen Kommune.

  1. 19  James D. White, a.a.O. Amadeo Bordiga. Russie et revolution dans la théorie marxiste (1975);
  2. 20  Plechanow weigerte sich, sich mit den Themen von Marxens Korrepondenz mit Daniel’son, Mikhailovski undZasulich auseinanderzusetzen. »In früheren Schriften hatte er auf Marx’ positive Kommentare zur Kommune

    verwiesen, aber in Our Differences von 1885 tat er das nicht mehr.« Cf. Kingston-Mann, a.a.O. S. 33.

  3. 21  Einschließlich Wera Sassulitsch, die später mit Gyorgi Plechanow in der Schweiz zusammenarbeitete.
  4. 22  Cf. Jacques Baynac, Les Socialistes-Revolutionnaires (1979) Bd. 1.
  5. 23  Schlüsselfiguren in der Untersuchungskommission des Zaren.
  6. 24  F. Venturi, Roots of Revolution (Englische Übersetzung 1960), S. 70.

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gleichbedeutend mit dem »real existierenden Sozialismus« selbst. Der »dialektische Materialismus« war tatsächlich die vulgäre Neuauflage des bürgerlichen Materialismus des 18. Jahrhunderts und wurde nicht zufällig von Bewegungen und Regimes vertreten, die wie ihr Vorbild im 18. Jahrhun- dert mit der Auslöschung der vorkapitalistischen Landwirtschaft die bürgerliche Revolution voll- endeten, egal welche Ideologie und Ziele sie vorgeblich vertraten. Bruchstücke dieser Ideologie finden sich bis heute in verschiedenen Arten von Produktivismus, die die Aufgaben der bürgerlichen und der sozialistischen Revolution miteinander verwechseln.25

Aber diese ideologische Entwicklung nach Marx stand noch in einem größeren Zusammenhang: dem weltweiten Übergang von der formellen zur reellen Herrschaft des Kapitals. In der formellen Phase übernimmt das Kapital die vorkapitalistische Produktion (z.B. Zünfte, Kooperation, Manu- faktur), ohne sie materiell zu verändern; in der späteren reellen Phase reduziert das Kapital alle Aspekte der Produktion, Reproduktion und des Lebens überhaupt auf ihre jeweilige kapitalistische Form. In der Industrie waren die »Rationalisierungsbewegungen« in Deutschland und Amerika (d.h. die kapitalintensive Innovation) der 1920er Jahre die am weitesten entwickelte Form dieser »Mate- rialisierung eines gesellschaftlichen Verhältnisses«26; in der Landwirtschaft hieß dies letztlich Agrarindustrie wie in Kalifornien und vergleichbare Entwicklungen bei großen Weizenexporteuren wie Kanada und Australien27 und der professionelle, fachschulgebildete Landwirt, der in Westeuro- pa seit dem 2. Weltkrieg die klassischen Bauern abgelöst hat. In dem Bogen von den USA bis Russ- land über die kleineren Landwirtschaften von Frankreich, Italien und Deutschland findet man eine fast vollkommene Deckung einer sich haltenden vorkapitalistischen Landwirtschaft, d.h. der Land- wirtschaft der formellen Herrschaft (beispielhaft dafür der landbesitzende Bauer, den die französi- sche Revolution hervorgebracht hat) und später kommunistischen Parteien: Je stärker die vorkapita- listische Landwirtschaft, desto stärker waren die Parteien der Dritten Internationale nach 1917.28
Die Sozialdemokratie vor 1914 und der Kommunismus nach 1917 waren die angemessene Form der Organisation der Arbeiterklasse, um diesen Übergang anzutreiben und waren bemerkenswert marginal in Ländern wie den USA oder Großbritannien, wo diese Aufgaben vollbracht waren. Wir können also der These von Lars Lih29 zustimmen, dass Lenin ein »Erfurter Sozialdemokrat« unter den extremen Bedingungen der zaristischen Autokratie gewesen sei, solange wir erkennen, dass die Erfurter Sozialdemokratie in Deutschland30 wie die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) der Bolschewiki und Menschewiki der organisatorische Ausdruck dieses Übergangs waren.

  1. 25  »Die bolschewistische Revolution hatte die alte marxistische Annahme zerschmettert, nur der Kapitalismus könne die Industrialisierung vorantreiben.« (in Stephen F. Cohen, Bukharin and the Bolshevik Revolution (1973), S. 170. Oder wie Amadeo Bordiga es in den 1950er Jahren gegen die stalinistische Propaganda treffender und genauer ausdrückte: »Es stimmt ganz genau, dass in der Sowjetunion die Grundlagen des Sozialismus gelegt werden« – genau deshalb betrachtete er sie nämlich als eine kapitalistische Gesellschaft.
  2. 26  Siehe Robert Brady, The Rationalization Movement in German Industry (1933) und Fritz Sternberg, Der Untergang des deutschen Kapitalismus (1933). Sowohl in Deutschland als auch in den USA sank die chronische Arbeitslosig- keit in dem kurzen Aufschwung vor 1929 nie unter acht Prozent – so etwas hatte es vor 1914 nie gegeben. Material über den ähnlichen Zusammenhang zwischen Rationalisierung und struktureller Arbeitslosigkeit in den USA findet sich bei Irving Bernstein, History of the American Worker: vol. 1. The Lean Years 1920-1933 (1960).
  3. 27  Der Argentinier Raul Prebisch, Begründer der »Importsubstitutions-« Entwicklungsstrategie der 1950er und 1960er Jahre, nicht gerade ein Marxist, beschäftigte sich mit den Unterschieden zwischen Argentinien, das in den 1880er Jahren zu einem der größten Exporteure von Weizen und Rindfleisch geworden war, und ähnlichen Exporteuren wie Australien und Kanada. Er kam zu dem Schluss, dass Argentinien anders als die Länder des Commonwealth durch das vorkapitalistische Erbe des spanischen Kolonialismus belastet war, indem die Latifundien noch bis ins 20. Jahrhundert hinein existierten. Vgl. E. Dosman, The Life and Times of Raul Prebisch, 1901-1986 (2008), S. 49.
  4. 28  Siehe meine Artikel »The Non-Formation of a Working Class Party in the U.S., 1900-1945« und »Communism is the Material Human Community: Amadeo Bordiga Today« auf http://home.earthlink.net/~lrgoldner.
  5. 29  Lars Lih, Lenin Rediscovered (2006) Lih bezeichnet Lenin als »Erfurter Sozialdemokraten«, was er als Schüler von Karl Kautsky und der SPD vor 1914 mit Sicherheit war. Es ist seltsam, dass Lih sich kaum mit Engels‘ Kritik des Erfurter Programms beschäftigt, das auf dem Erfurter Parteitag der SPD 1891 verabschiedet wurde.
  6. 30  Siehe den Klassiker zur Integration der SPD in den deutschen Kapitalismus: Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus (1973) und das frühere Buch von Carl Schorske, German Social Democracy, 1905-1917 (1954). Deutsch: Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905–1917. Berlin 1981,

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Man könnte die beiden Phasen wie folgt skizzieren:

Formelle Herrschaft
(Extensive Akkumulation)
1. Gewerkschaften bekämpft
2. Parlamentarismus
3. Nicht-militaristisch
4. Kolonialismus
5. Freie Berufe
6. Von Bauern zu Arbeitern
7. Der Staat als minimaler Konsument
8. Laissez-faire-Kapitalismus
9. Sekundäre Rolle des Finanzkapitals
10. Niedrige Quote finanzieller Verflechtungen31 11. Goldstandard (Ricardo)
12. Die Arbeiterklasse als Pariaklasse
13. Urbanisierung
14. Absoluter Mehrwert33
15. Primitive Akkumulation von Kleinproduzenten 16. Die Arbeit behält handwerkliche Züge
17. Arbeiterkämpfe zur Verkürzung des Arbeitstags

Reelle Herrschaft
(Intensive Akkumulation)
1. Gewerkschaften anerkannt und gefördert
2. Staatsbürokratie
3. Militaristisch
4. Imperialismus
5. Technische Berufe
6. Ausweitung des tertiären Sektors
7. Der Staat als Großkonsument
8. Konzentration, Regulierung
9. Hegemonie des Finanzkapitals
10. Hohe Quote finanzieller Verflechtungen (FIRO)
11. Fiat-Geld (Keynes, Schacht)
12. Die »Gemeinschaft der Arbeit«32
13. Suburbanisierung
14. Relativer Mehrwert
15. Primitive Akkumulation durch innere Aushöhlung des Lohns 16. Rationalisierung, Taylorismus
17. Technische Intensivierung des Arbeitsprozesses

Die Wurzeln der »Erfurter Sozialdemokratie« als Projekt der Staatsmacht lagen letztlich im absolu- tistischen Staat des 16. bis 18. Jahrhunderts, der in seiner Tudor-Phase in England (1485-1603) den Prozess des Bauernlegens34 begonnen hatte, ein Prozess, der sich dann auf den Kontinent auswei- tete, im bourbonischen Staat in Frankreich mit seiner Besteuerung der Bauernschaft und dem preu- ßischen Staat mit den Stein-Hardenbergschen Reformen von oben in der Zeit der Napoleonischen Kriege und danach.35 Daher wurde die von Engels, Plechanow, Kautsky entwickelte und von Lenin geerbte lineare evolutionistische <«matter-motion«>-Weltsicht, im Gegensatz zu Marx’ Entdeckung eines »anderen Wegs« für Russland in der Verbindung der Mir und einer Revolution in Westeuropa, später zu einer »Modernisierungs«-Ideologie für Länder, in denen die Landwirtschaft immer noch vorkapitalistisch war, ein »Ersatz für eine bürgerliche Revolution«, in der die Arbeiterklasse eine zentrale Rolle spielte, eine Fortsetzung der bürgerlichen Revolution mit roten Fahnen. Dies wurde damals aus offensichtlichen Gründen kaum erkannt oder ausgesprochen und benötigte eine jahrzehn- telange Entfaltung der Varianten in den USA, Deutschland und Russland, um sichtbar zu werden. Diese Entwicklungen waren auch kein »Telos« der früheren (Lasalleanischen, sozialdemokratischen oder bolschewistischen) Organisationskonzepte; der Weg führte nicht geradeaus, und es brauchte

  1. 31  Die »Quote finanzieller Verflechtungen« misst das Verhältnis aller Kapitalassets in der Produktion im Vergleich zu allen Kapitalassets im Finanz- und Immobilienbereich.
  2. 32  Laut Marx ist absolute Mehrwertproduktion die Ausdehnung des Arbeitstages über die zur Reproduktion der Arbeitskraft erforderliche Länge hinaus; relative Mehrwertproduktion geschieht durch die technische Intensivierung des Produktionsprozesses, z.B. durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität.
  3. 33  Die Glorifizierung der Arbeit, etwas das der faschistischen, stalinistischen und Volksfront/New Deal-Ideologie in den 1930er Jahren gemeinsam ist, war der gemeinsame ideologische Strang, der die Arbeiterklasse für eine neue Akkumulationsphase in der Zwischenkriegszeit mobilisierte. Dieses wenig untersuchte Phänomen, das sich etwa im italienischen dopolavoro, im nazistischen »Kraft durch Freude« und in der sozialrealistischen Kunst der stalinistischen Schule ebenso ausdrückte wie in der, die der amerikanische New Deal hervorbrachte, war die verdichtete Form des Massenkonsums, der nach 1945 seine diffuse Form in der Ideologie des Massenkonsums in der »Wohlstandsgesellschaft« annahm (Debord).
  4. 34  Siehe Marx’s Kapitel über die »Ursprüngliche Akkumulation« in Bd. I des Kapital, wo er die drakonischen Methoden der Tudors beschreibt, Bauern vom Land in Lohnarbeit, Elend und Arbeitshäuser zu vertreiben.
  5. 35  Siehe Perry Anderson Lineages of the Absolutist State (1974). Andere absolutistische Staaten, in denen später bedeutende Kommunistische Parteien entstanden, waren das Bourbonische Spanien, das Portugal von Pombal, zudem regionale Absolutismen (Piemont, Neapel) dort, wo später Italien entstand. Alle waren auf verschiedene Art und Weise mit der Kapitalisierung der Landwirtschaft verbunden. Siehe dazu auch meinen bereits erwähnten Artikel über das Nicht-Entstehen einer Arbeiterpartei in Amerika.

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schwere Niederlagen der Arbeiterklasse, um die spätere Form reifen zu lassen. Trotzdem gibt es in vergleichender Perspektive diesen Weg, wie er in der Welt von vor 1914 auftauchte, als der Kapita- lismus Bauern und Landwirte in Produktionsarbeiter im fortgeschrittenen Sektor verwandelte36, während er nach dem ersten und v.a. nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend hohe Produktivität nutzte, um die schnell wachsende Bevölkerung von unproduktiven Konsumenten im »Dienstleis- tungssektor« zu erhalten und der Anteil der Produktionsarbeiter an der Gesamtarbeiterschaft sank.

Es ist kaum überraschend, dass die Landwirtschaft und die riesige russische Bauernschaft (85-90% der Bevölkerung von 1917) einen entscheidenden Faktor für das Schicksal der Revolution darstell- ten, zumal die erwartete Weltrevolution, die das rückständige Russland materiell unterstützen sollte, nicht zustande kam. Die Roten gewannen den Bürgerkrieg letzten Endes, weil sie zumindest die widerwillige Unterstützung eines bedeutenden Teils der Landbevölkerung gegen die Weißen hatten, die sich wegen ihrer Verbindungen zum alten Regime nicht dazu durchringen konnten, einer Land- reform zuzustimmen. Stalin triumphierte in den Debatten der 1920er Jahre, bei denen die Agrarfra- ge im Mittelpunkt stand.37 Seine von 1929 bis 1932 durchgeführten Kollektivierungen ruinierten jedoch unwiederbringlich die russische Landwirtschaft. Sie kosteten darüber hinaus das Regime die vorherige zögerliche Duldung durch die Landbevölkerung und brachten 10 Millionen Tote sowie die Vernichtung von 40 Prozent des gesamten Viehs (Pferde, Rinder und Schweine) durch die Bauern selbst. Für die folgenden sechs Dekaden der Sowjetunion erholte sich die russische Land- wirtschaft, vor 1914 einer der Hauptgetreideexporteure der Welt, nicht mehr vollständig davon. Dies machte eine entscheidende Verbilligung von Nahrungsmitteln als Teil des Konsums der Arbei- terklasse unmöglich, was im Westen den Weg zum Massenkonsum von langlebigen Konsumgütern ermöglicht hatte. Russland seinerseits war gezwungen, ab Mitte der 50er Jahre Getreide zu impor- tieren.

Mit der wichtigen Ausnahme der italienischen kommunistischen Linken (die andere Probleme hat- te) hatten die meisten marxistischen Versuche außerhalb der Sowjetunion, deren Produktionsweise zu analysieren, die gleiche urban-industrielle Tendenz wie die Zweite Internationale, sich auf die Beziehungen zwischen Partei, Staat und der Arbeiterklasse zu konzentrieren und die Bauernschaft zu vernachlässigen. Sie machten sich so auf ihre Art Teile der linear-evolutionistischen Weltsicht von Engels-Plechanow-Kautsky zu eigen, die durch die Unterschlagung der Marx’schen Schriften zu Russland entstanden war.

  1. 36  Die Industriearbeiterklasse in Britannien und Deutschland machte in der Periode vor 1914 an ihren Höhepunkten ungefähr 40 Prozent der Gesamtarbeitskraft aus.
  2. 37  Siehe Alexander Erlich The Soviet Industrialization Debate 1924-1928 (1960); des weiteren John E. Marot The Russian Revolution in Retrospect and Prospect (2012). Wie allgemein bekannt ist, kämpften in diesen Debatten drei Fraktionen miteinander: die Vertreter der schnellen Industrialisierung in der trotzkistischen Linken, die des »Sozialismus im Schneckentempo« auf der Bucharinistischen Rechten, und die gefährlichste aller Fraktionen: das »schwankende« Stalinistische »Zentrum«. Der Sieg des »Zentrums« ruinierte den Kommunismus international für eine ganze Epoche, während Bucharin im Verlauf der Debatten richtigerweise gesagt hatte, dass die Umsetzung des Programms der Linken eine riesige Bürokratie erfordern würde, und die sozialen Kosten der Regulierung viel größer wären als die potenziellen Nachteile der marktgetriebenen Schichtung der Bauernschaft (siehe unten). Die gesamte Linke mit Ausnahme von Trotzki sah in Bucharin die Gefahr der »kapitalistischen Restauration« und kapi- tulierte vor Stalin auf der Basis des Produktivismus. Siehe dazu die Analyse der Italienischen Linkskommunisten zum 50. Jahrestag der Bolschewistischen Revolution Bilan d’une revolution (Programme Communiste, 1967-1968) als Beispiel für eine ausgewogene Richtigstellung von Bucharin als »rechtem Kommunisten« gegen den weitaus gefährlicheren Stalin. Siehe ebenfalls das zweite Kapitel bei Marot (a.a.O.), ein verheerender Bericht darüber, wie die Trotzkistische »Linke«Stalins Kollektivierungen begrüßte. Bis zum heutigen Tag haben die Trotzkisten diesen blinden Fleck, dass sie Stalin als »Zentrist« und Bucharin als »Rechten« und als Katzenpfote der »kapitalistischen Restauration« sehen, als ob Bucharins Konzept, wäre es umgesetzt worden, schlimmer für den Sozialismus welt- weit gewesen wäre als das, was tatsächlich geschah.

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II. Die Agrarfrage in der Zweiten Internationale und in Russland

Karl Kautskys Buch von 1899, Die Agrarfrage,38 stellte die »offizielle marxistische« Position der weltweiten sozialistischen Bewegung zu diesem Thema vor dem Ersten Weltkrieg dar. Es ist bezeich- nend für eine ganz auf die Industrie konzentrierte Sicht, dass das Buch nach einer Dekade weitge- hend vergessen war; und das trotz Marx’ früherer ausführlicher Kommentare zur Welt der Landwirt- schaft im I. und III. Band des Kapital39 und in den Theorien über den Mehrwert, insbesondere zur Frage der Grundrente, und seinem Bestehen darauf (entgegen der vorherrschenden Ansicht der Linken bis heute), dass es drei Klassen in der Gesellschaft gebe: Kapitalisten (die vom Profit leben), Proletarier (die von ihrem Lohn leben) und Grundeigentümer (die von der Grundrente leben). Wie im obigen Vorwort schon angedeutet, stellte die gewalttätige Trennung der englischen Bauernschaft von ihren Produktionsmitteln »durch Feuer und Blut« im Prozess der ursprünglichen Akkumulation für Marx die originäre Trennung dar, die es im Kommunismus zu überwinden gilt. Die »gleichmäßi- gere Verteilung der Bevölkerung über die Erdoberfläche« (Manifest) werde die Überwindung der fundamentalen (und ebenfalls weitgehend vergessenen) Trennung von Stadt und Land bringen. Kautskys Buch war unter anderem eine Polemik (ohne Namen zu nennen) gegen einige Parteimit- glieder des rechten Flügels der SPD, wie David und Vollmer aus Bayern, die bereits in den frühen 1890er Jahren (nach der Re-Legalisierung der Partei 1890) ein Agrarprogramm gefordert hatten. Kautsky wurde als der »Torquemada«40 der SPD in der Bauernfrage bekannt, dessen Botschaft es war, dass die Arbeiterbewegung den kleinbürgerlichen Bauern nichts zu sagen habe. Denn diese wären eine Klasse, die durch die Polarisierung in eine ländliche Bourgeoisie und in ein ländliches lohnarbeitendes Proletariat dem Untergang geweiht sei. Die Bauern könnten bestenfalls darauf hoffen, nach der Machtergreifung der Arbeiterklasse in Kooperativen eingebunden zu werden. Ein großer Teil der kleinbäuerlichen Produktion diente dem Konsum der Familie, und der Sektor war eine wichtige Quelle der ursprünglichen Akkumulation für das System als Ganzes. In den früheren Fassungen seiner Schrift argumentierte Kautsky nachdrücklich, dass in der Landwirtschaft wie in der Industrie der Satz gelte, je größer, je besser, und unterschätzte die Überlebensfähigkeit von hochproduktiven landwirtschaftlichen Familienbetrieben. Die Aufgabe der Sozialisten sei es, die Bauern als gesellschaftliche Kraft zu neutralisieren, nicht, sie zu mobilisieren.

Interessanterweise deckten sich in der Frage eines Bauernprogramms die Lager in der SPD nicht mit der typischen Rechts-links-Aufteilung, die sich zum Ende der 1890er Jahre anhand der »Revi- sionismus«-Debatte und später herausbildete. Die Linken Bebel und Wilhelm Liebknecht unter- stützten beide Vollmar auf dem Parteitag von 1895 in der Befürwortung eines Agrarprogramms, die Partei unterstützte jedoch Kautsky. Ferdinand Lasalles alte Formulierung, dass alle Klassen außer den Arbeitern »eine reaktionäre Masse« seien – eine Sichtweise, die Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms angegriffen hatte – schwebte ebenfalls im Hintergrund der Debatte.

Auf lange Sicht wurde Kautskys Prognose des unaufhaltsamen Verschwindens der Kleinbauern durch die prosperierenden modernen Bauernhöfe in Ländern wie Österreich und Dänemark wider- legt.41 Es war aber noch viel problematischer, dass Lenin sie auf Russland anwandte.
In den 1890ern teilte Lenin Kautskys Meinung über die Bauern (wie fast alles andere auch). Dies ist besonders merkwürdig, weil er die Jahre 1887 bis 1893 (nach der Hinrichtung seines Bruders we- gen dessen Beteiligung an einem Mordkomplott gegen den Zaren) in verschiedenen Provinzstädten

  1. 38  Unglaublicherweise erst 1988 ins Englische übersetzt.
  2. 39  Marx studierte z. B ausgiebig die Innovation der Düngemittel durch den deutschen Chemiker Liebig und derenBedeutung für die höheren Erträge der britischen und deutschen Landwirtschaft.
  3. 40  Tomas de Torquemada war eine wichtige Figur in der Spanischen Inquisition des 15. Jahrhunderts.
  4. 41  Die vorausgehenden Abschnitte stützen sich auf das Vorwort von Shanin/Alavi zur englischen Übersetzung 1988The Agrarian Question, Bd. l, S. xiii-xxxiii. Shanin schrieb an anderer Stelle darüber, wie Kautsky’s Sicht auf Russland angewandt eine »selbstwidersprüchliche Revolution« voraussah die »nur bürgerlich sein kann, aber in einer Periode stattfindet, in der im übrigen Europa nur sozialistische Revolutionen möglich sind«. Teodor Shanin, Russia, 1905-1907, Bd. 2, S. 187. Nach 1905 hoffte Kautsky tatsächlich, dass der revolutionäre Elan der russischen Marxisten die Zweite Internationale verjüngen könnte. (ebenda. S. 253)

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verbrachte, wo allem Anschein nach die letzten Überlebenden der volkstümelnden, terroristischen Gruppe Zemla i Volya [»Land und Freiheit« d. Ü.] (mit denen Marx zur Zeit des Höhepunkts ihrer Aktivitäten 1878-1881 sympathisiert hatte)42 und Marxisten nahezu freundschaftlich miteinander verkehrten. (Es ist bezeichnend, dass der Begriff Narodniki, welcher später abwertend und aus- schließlich im Sinne von »pro-bäuerlich, subjektiv romantisch, die Dorfgemeinschaft idealisierend und Fortschritte des Kapitalismus in Russland herunterspielend« verwendet wurde, ursprünglich zu dieser Zeit noch die Bedeutung hatte von »jemand, der sich mit den Belangen der einfachen Leute befasst«; erst nach der Polemik in der letzten Phase der Volkstümler erhielt der Begriff seinen nega- tiven Beigeschmack.) Lenin widersprach sogar seinem Mentor Plechanow und zeichnete sich wäh- rend der Hungersnot von 1891-92 durch seine Attacken aus gegen die humanitären Bestrebungen in »progressiven« Kreisen, den betroffenen Bauern zu helfen. Damit vertrat er noch einmal die ver- meintlich marxistische Position, die Bauern seien eine zum Aussterben verurteilte soziale Klasse und ihr Verschwinden solle nicht verhindert werden, damit der Kapitalismus sein Werk vollenden könne.43

Das ist besonders aufschlussreich, da kein Zweifel daran besteht, dass sich Lenin intensiv mit der Tradition der russischen Volkstümler beschäftigt hatte, bis hin zu den Schriften von Tschernyschewski44 und Dobroljubow45 aus den 1850er und 1860er Jahren. Nach Aussagen verschiedener Leute, die ihn persönlich kannten, las Lenin Tschernyschewskis proto-sozialistischen Roman Was tun? mehrmals.46 Der schwülstige, betont anti-ästhetische Roman erzählt die Geschichte von jungen Leuten der 1860er Generation, die mit ihrer bürgerlichen Familie brechen, um gemeinschaftlich zu leben und sich mithilfe von fourieristischen kunsthandwerklichen Kollektiven zu ernähren. Das Buch inspirierte zehntausende Leser in der stickigen Unterdrückung des zaristischen Russlands, diesem Lebensmodell zu folgen. Besondere Beachtung verdient die Figur des Rachmetow, ein regelrechter Prototyp Lenins und asketischer Berufsrevolutionär. Der Titel von Lenins Schrift von 1902 Was tun? ist eine offensichtliche Hommage an Tscherny- schewskis Buch, wie verschieden der Inhalt auch sein mag.47

Lenin verbrachte in den 1890ern mehrere Jahre im Exil in Sibirien, in denen er sein erstes bedeuten- des Werk, »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« (1899), schrieb, welches fälschlicher- weise oft als seine endgültige Sichtweise auf die Bauern angesehen wird, obwohl diese sich später unter dem Eindruck der Ereignisse erheblich veränderte. Lenin ist in diesem Buch sehr bemüht zu zeigen, dass entgegen der zögerlichen Ansicht der Volkstümler der Kapitalismus in Russland voll- ständig gesiegt habe. Das Werk ist stark fehlerbehaftet durch eine weitgehend auf »Markt« (statt Wert) zentrierte Sicht des Kapitalismus. Die Mir, welche zu dieser Zeit vier Fünftel des bebauten Landes des europäischen Russlands ausmachte, wird kaum erwähnt, da sie für Lenin lediglich eine

  1. 42  Marx nannte die russischen Terroristen der späten 1870er Jahre »die führende Abteilung der revolutionären Bewegung in Europa«.
  2. 43  In der Hungersnot starben 300.000 Bauern; von 1889 bis 1917 war jedes zweite Jahr ein Hungerjahr. Siehe Kingston-Mann, a.a.O. S. 33-34.
  3. 44  Nikolai Tschernyschewski (1828-1889) war ein Volksschriftsteller, der in den 1850er Jahren einige der ersten soziologischen Studien der russischen Gesellschaft veröffentlichte. 1862 wurde er für den Rest seines Lebens ins sibirische Exil geschickt.
  4. 45  Nicolai Dobroljubow (1836-1861) war ein radikaler Aktivist und eine literarische Persönlichkeit in den 1850er Jahren. Wie Tschernyschewski schrieb er für die damals bedeutendste Oppositionszeitschrift, Der Zeitgenosse.
  5. 46  Siehe z. B den Bericht von Valentinov, Begegnungen mit Lenin (1968) S. 63-68.
  6. 47  Claudio Sergio Ingerflom, Le citoyen impossible: Les racines russes du leninisme (1988). [Der unmögliche Bürger– Die russischen Wurzeln des Leninismus] Vor allem Tschernyschewski hatte den Begriff »aziatzvo«, entwickelt, das erdrückende »halb-asiatische« Gewicht des zaristischen Staates, das die gesamte russische Bevölkerung atomisierte und jeden zusammenhängenden Volksaufstand, jede bewusste »Klasse für sich«, unmöglich machte. Lenin sah in der Arbeiterklasse, die sich nach 1870 herausbildete und zu rebellieren begann, die erste Kraft, die sich »außerhalb« dieser Atomisierung bilden konnte. Diese Sicht wurde bestätigt durch die militanten Streiks 1896 und danach. Ingerflom meint, dass Lenin mit Was tun? aber zu seinen Tschernyschewski’schen Wurzeln zurückkehrt, wo er den Fokus der »Ökonomisten« auf die Produktion kritisiert und die Revolutionäre dazu aufruft, wie der literarische Prototyp Rachmetow in alle Klassen der russischen Gesellschaft zu gehen, alle Unterdrückungsverhältnisse zu kritisieren und sich somit als »Volkstribun« zu konstituieren.

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»juristische Hülle« des zaristischen Staates darstellte.48 Die hohen ausländischen Kredite und die schnelle industrielle Entwicklung unter Finanzminister Witte bleiben ebenfalls unerwähnt.49
Lenin kommt letztendlich zu dem Schluss, dass volle 51 Prozent der russischen Bevölkerung lohn- abhängige Proletarier seien und die Polarisierung zwischen reichen bäuerlichen Kapitalisten und ländlichen Arbeitern auf dem Lande weitgehend abgeschlossen sei.50 Dabei packt er alle Bauern in die Kategorie ‘armer Bauer, »nahezu« getrennt von ihren Produktionsmitteln’.51 Somit war jeder Bauer mit winziger Parzelle, einem Pferd und einer Kuh, der sich und seine Familie kaum ernähren konnte und andernorts für einige Monate im Jahr gelegentlich einer Lohnarbeit nachging, »Proleta- rier«. Die großen Landgüter wurden für Lenin rasch kapitalistisch, wohingegen die Großgrundbe- sitzer jeglicher Idee von Akkumulation und Produktivität von Kapital fremd gegenüberstanden.52 Lenin sieht darüber hinaus »technologischen Fortschritt«, wo die Bauern tatsächlich mit sehr einfa- chen und primitiven Geräten arbeiteten, die seit langem in Gebrauch waren. Wenn die Landgüter weitgehend kapitalistisch waren, wie erklären sich dann die Einschränkungen der bäuerlichen Mobilität, die sie wie Leibeigene an einen Ort banden? Lenins Sicht des Kapitalismus war alleine auf die Sphäre der Zirkulation beschränkt.53 Bereits in seiner ersten Schrift (»Neue wirtschaftliche Vorgänge im bäuerlichen Leben«) hatte Lenin behauptet, dass die Mir kein Hindernis für den Kapitalismus darstelle: »Wir sind in keiner Weise an der Form des Grundeigentums der Bauern interessiert. Wie auch immer die Form, die Beziehung zwischen bäuerlicher Bourgeoisie und bäuerlichem Proletariat bleibt die gleiche.«

Nach Chantal de Crisenoy nahmen zu dieser Zeit die kleinen Bauernparzellen tatsächlich ab, während die Dorfgemeinschaften ihre Bedeutung beibehielten.54 Crisnoy führt aus: »Durch die Leugnung aller Besonderheiten der Mir zeigt sich Lenin mehr vorgefassten Meinungen verhaftet … als aufmerksam gegenüber wirklich existierenden sozialen Beziehungen … In seiner Analyse finden wir eine totale Umkehrung der Realität: Alles, was ein Element der ursprünglichen Akkumulation ist – verpflichtende Dienste, Steuern –, wird als ein ,Überbleibsel’ angesehen, das das Aufkommen des Kapitalismus blockiert; alles, was ein Hindernis zur Entstehung von Kapital darstellt – die Handwerkszweige, die Dorfgemeinschaft – wird als ihr ,grundlegendstes Fundament’ bezeichnet.«55 Im Artikel von 1897: Auf welches Erbe verzichten wir?56 stellt Lenin die Mir als ein »Dorf von Kleinagrariern« dar: »… wenn er gegenüber den Volkstümlern die Existenz einer Arbeiterklasse inmitten der Obschtschina beweisen will, bemüht er das Konzept eines ,sesshaften Proletariats’ und wendet es auf ebendiese Bauern der Dorfgemeinschaft an… 1899 kommt er auf eine dreimal so hohe Zahl von Lohnarbeitern als die, von der man heute allgemein für den Vorabend des Ersten Weltkriegs ausgeht.«57

Lenin war jedoch (mit Trotzki)58 einer der wenigen russischen Marxisten, die es gegen die abschät- zige Haltung Plechanows für wichtig hielten, sich ernsthaft mit den Bauern zu beschäftigen. 1902

  1. 48  Lenins Entwurf des Parteiprogramms von 1899 behandelte die Masse der Kommune-Bauern nur insofern, als er feststellt, die meisten von ihnen seien »tatsächlich« Proletarier. Siehe Kingston-Mann, a.a.O. S. 48. Teodor Shanin arbeitet in Band 2 seines wichtigen Buchs von 1986 Russia 1905-07 heraus, dass in der Phase, in der sich die Russi- sche Sozialdemokratie herausbildete, Mitte der 1880er Jahre bis 1902, die Bauernkämpfe an ihrem Tiefpunkt waren (S. 146).
  2. 49  Die späten 1890er Jahre, in denen Lenin das Buch schrieb, waren tatsächlich Boomjahre für die russische Industrie unter Wittes Management. Siehe T. von Laue Sergei Witte and the Industrialization of Russia (1963). Witte war 1892 Finanzminister geworden und verlagerte die Steuerlast auf die Bauern, um die Industrialisierung zu fördern.
  3. 50  Nach 1905 gab Lenin zu, dass er sich mit dieser Polarisierung getäuscht hatte (Kingston-Mann, S. 53), er sah darin aber nur einen zeitlichen Fehler und hielt an seiner grundlegenden Vorstellung über die Entwicklung fest.
  4. 51  Chantal de Crisenoy Lenine face aux moujiks (1971) , S. 83.
  5. 52  ebenda S. 99.
  6. 53  ebenda S. 103.
  7. 54  ebenda S. 110.
  8. 55  ebenda S. 111-112.
  9. 56  Lenin Werke, Band 2.
  10. 57  Crisenoy, a.a.O. S. 115.
  11. 58  Trotzki sagte: »In der kommenden Revolution müssen wir uns mit der Bauernschaft verbünden« (zitiert in LeninsSchrift von 1904 Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück) 11

gab es in einigen Provinzen Aufstände aufgrund einer Hungersnot, und Lenin entwarf zur selben Zeit sein erstes an die Bauern gerichtetes Programm, Das Agrarprogramm der russischen Sozialde- mokratie,59 das von der Partei 1903 angenommen wurde. Er blieb nach wie vor ambivalent gegen- über der zukünftigen Rolle der Bauern, sah sie entweder als Unterstützer einer »revolutionären demokratischen« Partei oder als Anhänger der »Partei der Ordnung«.60 Viele russische Sozialdemo- kraten verwarfen das Programm als solches, so wie Kautsky dies bereits vorher in Deutschland getan hatte. Es forderte die Annullierung der Schulden von 1861,61 freie Landnutzung für die Bauern, Restitution der »Otrezki« an die Bauern (hochwertige Landstreifen, die die Landbesitzer bei der Reform von 1861 einbehalten hatten) und die Annullierung von hohen Pachten und ausbeu- terischen Verträgen. Lenin erwartete, diese Veränderungen würden den »Binnenmarkt ausweiten«, »den bäuerlichen Lebensstandard erhöhen und die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirt- schaft beschleunigen«.62
Nach den Aufständen von 1902 schrieb Lenin »An die ländlichen Armen«, worin er noch seine früheren Ansichten über die Dynamik des ländlichen Raumes beibehielt. Aber in dem Artikel wurde, wie Kingston-Mann ausführt, »die umverteilende Dorfgemeinschaft, die das institutionelle Rückgrat für so viele der Aufstände darstellte, vollständig ignoriert.«63
Alles in allem »konnten die Bauernaktionen nur … anti-feudal’ sein und auf feudale Überbleibsel sollte sich das Hauptaugenmerk des sozialdemokratischen Agrarprogramms richten.«64
1903 nahm der 2. Parteitag Lenins Agrarprogramm an – ohne Erwähnung eines »Arbeiter- und Bauernbündnisses«. Lenin warnte vor solch einem Bündnis. Um sich mit dem Proletariat zu verbünden, müssten die Bauern ihren »eigenen Klassenstandpunkt« aufgeben und »den des Proletariats« annehmen.65

III. 1905-1907: Ideologie trifft auf Realität

Im Januar 1905 führte der orthodoxe Priester und zaristische Agent Provocateur Vater Gapon eine Massendemonstration von Arbeitern in St. Petersburg zum Zarenpalast, die den Zar geradezu darum anbettelte, bestimmte Grundrechte zu gewähren. Kosaken schossen in die Menge, töteten Hunderte und die Revolution von 1905-1907, die »Generalprobe« für 1917, begann.66 Während dieser Jahre revoltierten die russischen Bauern genauso intensiv wie die Arbeiterklasse und erschütterten voll- ständig die Vorstellungen der russischen Marxisten, welche – unter Kautskys Einfluss – vorherge- sagt hatten, dass die Bauern nur individuell Landparzellen für sich fordern würden und sonst nichts. Die Bauern selbst richteten 1905, alles in allem, 60.000 Petitionen an die Regierung. (Der Kern

  1. 59  siehe Fußnote 48.
  2. 60  Crisenoy, S. 155-156. »Unmittelbar vor diesem Ausbruch hatte Lenin geschrieben: ’Wir werden (mit dem Pro-gramm) eine letzte Anstrengung unternehmen, die Überbleibsel der Klassenfeindschaft der Bauern gegen ihre Lehnsherren aufzustacheln.’ Kurz danach zerstörten die aufständischen Bauern (in mehreren Regionen – LG) 100 Gutshöfe, enteigneten die Großgrundbesitzer, brachen in ihre Scheunen ein und verteilten Nahrungsmittel an die Hungernden… zum ersten Mal zeigten sie Feindschaft gegenüber dem Zaren und gingen gegen die Kosaken mit Äxten und Heugabeln vor…«
  3. 61  Die Emanzipation der Knechte von 1861 war ein Flickwerk von Veränderungen, das die befreiten Knechte auf Jahrzehnte hinaus mit Schulden für das ihnen zugesprochene Land belastete.
  4. 62  ebenda S. 159. Lenin fuhr im Bezugssystem seines Buchs von 1899 fort, demzufolge das Land weitgehend kapitalistisch erschlossen sei, indem er ausführte, (im allgemeinen) sei »Unterstützung der Kleinbesitzer reaktioär, weil sie auf die Ökonomie des Großkapitalis zielt… aber im vorliegenden Fall wollen wir die Kleineigentümer nicht gegen das Kapital sondern gegen die Knechtschaft unterstützen« (ebenda S. 160)
  5. 63  Kingston-Mann S. 65. In einer »Umverteilungs«-Kommune wurden die Felder je nach Größe der Bauernfamilien periodisch umverteilt.
  6. 64  ebenda S. 70.
  7. 65  Lenins Agrarprogramm, zitiert bei Crisenoy, a.a.O. S. 166. Sie kommentiert auf S. 167: »Lenin bleibt nahe an denorthodoxesten Positionen der Zweiten Internationale und der Verweigerung jedes Bündnisses zwischen Arbeitern

    und Bauern.«

  8. 66  Weil das Hauptthema dieses Texts die russischen Bauern und der Mir ist, umgehe ich einen detaillierten Bericht derRevolution von 1905, in der die Arbeiterklasse ohne Einfluss einer politischen Partei die »Sowjets« erfunden hat. Als Überblick kann man Trotzkis 1905 lesen (original 1907-1908, engl. Übersetzung 1971).

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zahlreicher Forderungen der Bauern nach Übertragung des gesamten Landes an die Dorfgemein- schaft wurde zu dieser Zeit von keinem russischen Marxisten ernst genommen.)67 Die Bauern dran- gen in Wälder ein und besetzten Weideland, von deren Nutzung sie ausgeschlossen worden waren; sie raubten Geschäfte, Warenlager und Herrenhäuser aus, brannten Gebäude nieder und töteten die Gutsherren.68 Die große Mehrzahl der ländlichen Streiks waren Streiks von teilweise oder saisonal beschäftigten Kleinbauern. Die meisten dieser Streiks wurden von den kommunalen Versammlun- gen geführt.69 1905 sank der Ernteertrag in 25 russischen Provinzen, die eng mit den Orten der Auf- stände verbunden waren.70 Wie Shanin es formulierte: »Sobald der Wille des Zaren nicht mehr als eine Naturgewalt angesehen wurde … brach das gesamte Sozialgefüge des ländlichen Russlands auseinander. Alles schien nun möglich.«71 Der erste Höhepunkt war im Juni 1905. Die Differenzie- rungen zwischen reichen, mittleren und armen Bauern, welche Lenin in seinem Buch von 1899 so sorgfältig herausgearbeitet hatte, schienen in ihrer Bedeutung zu schwinden, da reichere Bauern ihren ärmeren Nachbarn mit Nahrung aushalfen.72

Unter dem Einfluss dieser Ereignisse schlug Lenin noch in Zürich im Frühjahr 1905, vor seiner Rückkehr nach Russland, eine »revolutionäre, demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern« zur Errichtung einer provisorischen Regierung für die bürgerlich-demokratische Revolu- tion vor. »Diese Formulierung befand sich so wenig in Übereinstimmung mit dem vorrevolutionä- rem marxistischen Programm, dass Lenin immer wieder aufgefordert wurde, zu beweisen, dass er die marxistischen Prinzipien nicht geopfert hatte.«73

Lenins Bauernpolitik während der gesamten Kämpfe im Sommer 1905 wird von Crisenoy zusam- mengefasst als »die Bauernbewegung unterstützen, sich aber vor allem für die Zukunft nicht die Hände binden. Es ist nötig, voranzuschreiten und harte Schläge für die revolutionäre bürgerliche Demokratie auszuteilen … separat zu marschieren und zusammen zu kämpfen, die divergierenden Interessen nicht zu verbergen und den Verbündeten wie einen Feind zu überwachen.«74 Hier verblieb, wie sie betont, noch eine gewisse Angst vor den bäuerlichen Kämpfen, Angst vor deren Spontaneität und eine große Verachtung für die »Kulturlosigkeit« der Bauern.75

Währenddessen waren die Aktionen der Bauern und die Stellungnahmen ihrer Repräsentanten »eine eindrucksvolle Widerlegung von (Lenins) Einschätzung.«76 Im Sommer 1905 schufen die Bauern eine Zentralorganisation mit Delegierten aus mehreren Provinzen. Der Gesamtrussische Bauern- verband traf sich erstmals klandestin Ende Juli und forderte die Abschaffung des Privateigentums und die Enteignung der Großgrundbesitzer; eine Mehrheit sprach sich gegen Entschädigungen aus.77 Die Bauern beschränkten sich aber nicht auf die Landfrage, sondern forderten außerdem freie allge- mein zugängliche Bildung, eine Amnestie für politische Gefangene, die Einberufung einer Duma

  1. 67  ebenda S. 98.
  2. 68  Teodor Shanin, Russia, 1905-07. Revolution as a Moment of Truth. Bd. 2. 1986. S. 84. Vieles von dem folgendenbasiert auf Shanin, Kingston-Mann und Crisenoy.
  3. 69  ebenda S. 85-87.
  4. 70  ebenda S. 88.
  5. 71  ebenda S. 89. Crisenoy berichtet (S. 171-172) »Von 7000 Aktionen, die die Ochrana zwischen 1905 und 1907auflistet, sind 5000 gegen Herrenhäuser gerichtet.« Im April 1905 sah Lenin die Übergabe von allem Land an die Bauern als Möglichkeit, dem Argrarkapitalismus eine »breitere Grundlage« zu verschaffen und den Übergang zu einer »amerikanischen« Landwirtschaft zu beschleunigen. Aber er sah weiterhin in den Großgrundbesitzern Kapita- listen und zögerte, sich klar für Landeigentum der Bauern auszusprechen. Andererseits war er klug genug, die Unzulänglichkeit des Argraprogramms zu erkennen.« (ebenda)
  6. 72  »Lenins verschlungenen Unterscheidungen zwischen Knechten, Halbproletariern, Mittelbauern und den ländlichen Armen blieben auch für seine loyalsten Unterstützer schwierig zu verstehen.« (Kingston-Mann, S. 167)
  7. 73  Kingston-Mann, a.a.O. S. 79. Die menschewistische Konferenz im Mai 1905 kritisierte Lenins Vorstellung von Sozialdemokraten, die eine bürgerliche Regierung anführen. Plechanow und seine Verbündeten, ihrerseits noch ganz im klassischen Bezugsrahmen von Kautsky, kritisierten den Bauernaktivismus, dieser könne höchstens kapitalistische Unternehmen auf großer Stufenleiter zersplittern (ebenda S. 82).
  8. 74  Sozialdemokratie und revolutionäre Bewegung, März 1905, Lenin Werke, Bd. VIII.
  9. 75  »Allgemeiner Plan der Resolutionen auf dem III. Kongress«, Februar 1905, Lenin Werke, Bd. VIII.
  10. 76  Crisenoy, S. 174.
  11. 77  ebenda. S. 175.

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(Parlament) und einer verfassungsgebenden Versammlung.78 Lenin räumte ein, dass der Bauern- kongress seine eigenen Interessen gut vertrat.79
Die Sozialdemokraten riefen zur Bildung von revolutionären Bauernkomitees (Räten) auf, spielten auf dem Lande aber keine Rolle. Es waren junge Bauern, die aus den Fabriken zurück waren, die revolutionäre Ideen verbreiteten.80 Im Sommer 1905 hielten die Bolschewiken ihren dritten Partei- kongress in London ab, mit der Bauernfrage als einem Hauptthema. Sie waren gespalten, unfähig, die Ereignisse vorherzusehen oder zu kontrollieren. Lenin war hin- und hergerissen, von einem (praktischen) politischen Standpunkt aus war das Parteiprogramm unbefriedigend, unter theoreti- schen Gesichtspunkten seiner Meinung nach jedoch perfekt begründet.81 Wenn die Bauern über die Parteilosung zur Übernahme der Otrezki (das waren wie oben erwähnt die Landstreifen, die die Großgrundbesitzer bei der (Land-)Reform von 1861 einbehalten hatten) hinausgingen und anderes Land besetzten, waren sie dann »reaktionär«? Es gab einen permanenten Widerspruch zwischen dem, was Lenin als eine politische Notwendigkeit ansah, und seiner ökonomischen Analyse; wenn er fortfuhr, Punkte aus seinem Agrarprogramm von 1902 zu verteidigen, geschah dies, weil er wei- terhin von der Vorherrschaft des Kapitalismus auf den großen Landgütern überzeugt war. Im März 1905 versicherte er weiterhin, »in Russland gibt es nur wenige Überbleibsel des Feudalismus«.82 Am 17. Oktober veröffentlichte der Zar als Antwort auf die Monate des Aufstandes ein Manifest, in dem »er viel von Freiheit sagte, aber nicht vom Land sprach – der einen Sache, die wirklich zähl- te.«83 Dies hatte keinen Effekt, und im Oktober 1905 »erreichten die Angriffe auf Landgüter ein bis dahin noch nie da gewesenes Ausmaß und führten schnell zu einer massenhaften Zerstörung von Herrenhäusern im Schwarzerdegürtel.«84 Das war keine blinde Wut, die Bauern wollten die Guts- herren loswerden und sichergehen, dass sie nie wieder zurückkehrten; 2000 Herrenhäuser wurden zerstört. Die Regierungsstrategie bestand aus heftiger Repression und wirkungsloser Beschwichtigung durch das Manifest vom 3. November, welches Zahlungen abschaffte, die noch von der Bauernbefreiung von 1861 fällig waren. Die staatliche Repression bestand jedoch aus einer »Gewaltorgie«.85 Es gelang, die Arbeiterunruhen einzudämmen, aber die Bauernrevolte ging weiter und erreichte ihren Höhepunkt sogar erst im Juli 1906. Die ländlichen Unruhen im Juni 1906 waren so heftig, dass der österreichische Kaiser eine militärische Intervention erwog. Ebenfalls im Juli 1906 argumentierte Lenin, dass die Bauernschaft »revolutionär demokratisch« sei, die Sozialdemo- kraten sie aber bekämpfen würden, wenn sie »reaktionär und anti-proletarisch« werde. Kingston- Mann drückte es so aus: »Trotz seines außergewöhnlich scharfen politischen Verständnisses für die Schwierigkeiten seiner Gegner machten die Defizite von Lenins ökonomischer und soziologischer Theorie das Konzept einer marxistischen Bauernrevolution weiterhin zu einem Widerspruch in sich selbst.«86

  1. 78  ebenda S. 176. Später, im November 1905, liefen die Bauern ihren zaristischen Beamten davon und wählten ihre eigenen »Stammesältesten« (starost). Viele griffen das ganze System direkt an, den Staat und seine Vertreter: Polizei, Armee und Beamte. Die Polizei berichtet von 1041 solcher Aktionen zwischen 1905 und 1907. 1000 Herrenhäuser wurden niedergebrannt, in einigen Provinzen wurden sogar alle Gutshöfe zerstört. In der Ukraine, Litauen, Georgien und der Wolga-Region gab es Bauernmilizen. Die Mir behielt all ihren Einfluss.
  2. 79  Shanin, a.a.O. S. 126.
  3. 80  Crisenoy, S. 179.
  4. 81  ebenda S. 180.
  5. 82  »Revolution im Stil von 1789 oder von 1848«, März-April 1905, Lenin Werke Bd. VIII, zitiert bei Crisenoy, S. 180-181.
  6. 83  Shanin, a.a.O. S. 92.
  7. 84  ebenda S. 93. Schwarzerdegürtel war der Begriff für die fruchtbarsten Felder.
  8. 85  ebenda S. 93-95. Die Befreiung der Knechte von 1861 hatte jahrzehntelange Zahlungen für das umverteilte Land anden Staat vorgesehen.
  9. 86  Kingston-Mann, a.a.O. S. 100. Trotzki, der einzige russische Marxist, der mit Lenin 1903 darin übereinstimmte,dass ein Bündnis mit der Bauernschaft wichtig sei, änderte seine Sicht nach 1905-07, er attackierte Lenins »demo- kratische Diktatur der Arbeiter und Bauern« und betonte, Bauern könnten keine unabhängige politische Rolle spie- len oder eine eigene Partei gründen. Siehe Shanin (a.a.O. S. 257). Trotzki spürte, dass die Bauern 1905 wenig von politischer Bedeutung getan hatten, etwas mehr 1906, dass aber ihre Rolle insgesamt mager war. Er scherte sich nicht um die massiven Stimmen 1906 für die Sozialrevolutionäre in Petersburg. Shanin zufolge »steht Trotzki mit

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Schon vorher hatte sich im April die erste Duma getroffen und sich nicht einmal mit den Forderun- gen der Bauern beschäftigt.87 Die Bewegung ebbte letztlich ab und der Staat und die Gutsbesitzer formierten sich neu. Dies verhinderte jedoch nicht, dass im Winter 1906-07 Weideland zum dritten Mal besetzt wurde.

Derweil organisierte die RSDLP im April 1906 in Stockholm eine bolschewistisch-menschewistische »Vereinigungskonferenz«. Dort forderte Lenin die Verstaatlichung des gesamten Landbesitzes.88 Er favorisierte nun die Verstaatlichung als Beginn des Weges zum Kapitalismus; für die Bauern auf der anderen Seite bedeutete dies die Ausweitung von kommunalem Eigentum auf die staatliche Ebene. Die Menschewiken befürchteten, dass eine Zerstückelung von Großgrundbesitz die Entwicklung des Kapitalismus verlangsamen würde. Plechanow argumentierte, dass durch einen Transfer von Land an den Staat der Autokratie mehr Land denn je zugeführt würde.89 (Kautsky bestritt zum wiederholten Male im Hauptorgan der II. Internationale, der »Neuen Zeit«, die Notwendigkeit eines sozialdemokratischen Programms für die Bauern.) [fehlender Quellennachweis, d. Ü.] Lenin zitierte Marxʼ Kapital, dass die Übertragung von Land an den Staat eine bürgerliche Maßnahme sei, die wie im amerikanischen Westen einen Wettbewerb erzeugen würde. Der Kongress stimmte schließlich für den Plan des Menschewiken Maslow für die Kommunalisierung des Landes.90 Lenin lehnte dies ab und sagte, dies würde nur den lokalen Eliten Macht verleihen.

Die anfänglichen Forderungen der Bauernaufstände wurden in einer anderen Sprache erhoben als die der städtischen Revolten, drückten sie doch einen Wunsch nach politischer Macht und Bürger- rechten, Landreform, »gemeinnütziger Regierung«, Freiheit und einem »Angehörtwerden« aus.91 Nach Shanins Sicht zweifelten viele an der Existenz von allgemeinen politischen Zielen der Bauern im ländlichen Russland der Jahre 1905-07. Und Lenin sagte 1917, dass das Problem der Bauernre- volten jener Jahre war, dass sie ihre Aufgabe nicht zu Ende geführt hätten, da sie nur einen Teil der Gutshäuser niedergebrannt hätten.92

Andere Durchbrüche gab es in Gegenden wie Georgien, wo sich in der Provinz Guria, wie Shanin es nannte, »der erste Fall einer Bauernherrschaft geführt von einer marxistischen Elite« von 1903 bis 1906 behaupten konnte und sich die Kunde davon weit verbreitete. Die lettischen Sozialdemo- kraten führten ausgedehnte Angriffe an in einem »Mini-Bürgerkrieg« auf Herrenhäuser in den balti- schen Provinzen, in dem 459 Gutshäuser in Lettland und 114 in Estland zerstört wurden.93 Die er- nannten Feinde der Revolten waren im gesamten Russischen Reich der Staatsapparat, die »Gemein- defresser«, also Kulaken (reiche Bauern), welche Gemeindeland für sich selbst kauften, und die reaktionären Banden der »Schwarzen Hundertschaft«. Die zweite Duma, die 1907 zusammentrat, war radikaler als die erste und die Bauern waren regierungsfeindlicher. »Die Bauern betrachteten ihr Leben in einer Art und Weise, die vorher undenkbar gewesen war.«94 Sie waren sehr geschickt und die Forderungen nach Landverteilungen an die Bauern und nach Abschaffung des Privateigentums waren total.95

Unter dem Eindruck dieser sich steigernden Ereignisse forderte Lenin eine Revision des Agrarpro- gramms der RSDLP von 190396 und sagte, anders als in seinem Buch von 1899, dass »die Guts-

seinem scharfen Anti-Populismus und seiner Anti-Bauern-Haltung nahe bei den konservativsten Menschewiken.«

(ebenda S. 258)

  1. 87  Das zaristische Regime antwortete auf die Massenaufstände, indem es nacheinander vier gewählte Dumas, odergesetzgebende Körperschaften, zuließ, aber jede auflöste und mit weniger Macht als zuvor wieder einsetzte.
  2. 88  Kingston-Mann, a.a.O. S. 92. Crisenoy, a.a.O. S. 192.
  3. 89  ebenda S. 93.
  4. 90  ebenda S. 95.
  5. 91  Shanin a.a.O. S. 100.
  6. 92  ebenda S. 101.
  7. 93  ebenda S. 109.
  8. 94  ebenda S. 131.
  9. 95  ebenda S. 133.
  10. 96  Wie Shanin es darstellt (S. 152-168): nach 1905 änderte sich Lenins praktische Ausrichtung, aber theoretisch änder-te sich wenig. Er aktualisierte auch nicht Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, die Grundlage seines frü- hen Agrarprogramms. Shanin schätzt Lenins »Vor-Ort«-Reportagen 1905-07 und »den Mut, mit dem er neue unor-

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wirtschaft in Russland auf repressiver Leibeigenschaft und nicht auf einem kapitalistischem System fußt … Diejenigen, die sich weigern, dies anzuerkennen, können die gegenwärtige breite und tiefge- hende bäuerliche Revolutionsbewegung in Russland nicht erklären«.97 Die meisten Sozialdemokra- ten räumten nun ein, dass das Programm von 1903 zu pessimistisch hinsichtlich des revolutionären Potentials der Bauern gewesen war. Diese Änderung der Einstellung schlug sich nieder in der For- derung nach einer »demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern«, welche einen »Amerikani- schen Weg« der agrarischen Entwicklung unter einem revolutionären Regime ermöglichen sollte.98 Auch die Kräfte der Reaktion mussten ihre Sicht der Bauernschaft revidieren: »Sobald die Gutshäu- ser brannten und sich in der ersten und zweiten Duma die Beschimpfungen der Regierung häuften, stellte sich mehr und mehr die Dorfgemeinschaft als der Grund für die bäuerliche Rebellion her- aus.«99 Dieser Wandel der Wahrnehmung zeichnete die Politik Stolypins nach 1907 vor, der Witte 1906 als Finanzminister ablöste und dann versuchte, die Kommunen auszuhöhlen, indem er einzel- ne Bauern subventionierte, die die Dorfgemeinschaft verlassen und ihre eigenen Flächen bewirt- schaften wollten.100 Die Bauern beendeten die Aufstände von 1905-07 mit größerem Erfolg als jede andere Gruppe. Die Pachten gingen runter und die ländlichen Löhne gingen rauf; die meisten Schul- den der Bauern wurden vom Staat annulliert. Auch das bäuerliche Selbstvertrauen war enorm gestiegen.101

IV. Jahre der Reaktion: Stolypins Versuch einer Revolution von oben im »preußischen« Stil

1906 übernahm P. A. Stolypin den Posten des gestürzten Witte als mächtigster Minister der zaristi- schen Regierung, übte eine scharfe Repression gegen die Revolution von 1905-07 aus und betrieb gleichzeitig eine Politik der Zerschlagung der bäuerlichen Dorfgemeinschaften. Seine zahlreichen Hinrichtungen von Revolutionären durch den Strick wurden bekannt als »Stolypins Krawatten«. Unter dem Eindruck der Revolution wurde sich die Regierung bewusst, mehr noch als die Marxis- ten, dass die Dorfgemeinschaft, die vormals als eine Stütze des Regimes angesehen worden war, tatsächlich die Hauptquelle des bäuerlichen Radikalismus darstellte. Stolypin und seine Ratgeber schauten auf die preußischen Reformer der 1820er zurück, die eine Revolution von oben durchge- führt hatten, um eine Revolution von unten zu verhindern.102 Privatunternehmen sollten nun in der

thodoxe Taktiken gegenüber seinen eigenen Genossen vertrat«. Aber er stellt auch heraus, dass »70 Jahre Forschung keinen einzigen Bolschewiken zutage gefördert haben, der 1905-1907 ein Bauernführer gewesen wäre«. »Auf dem Höhepunkt Russlands größter Bauernrevolte seit Jahrhunderten war die Anzahl von Bauern innerhalb der bolsche- wistischen Kader etwa null, so wie die Anzahl der Bolschewiken, die vom »Wahlkollegium« der Bauern zur 2. Du- ma gewählt wurden. Auf der anderen Seite lernten Arbeiter und Bauern durchaus gegenseitig von ihren jeweiligen Kämpfen. Die Allrussische Bauern Union wies eine sozialdemokratische Arbeiterdelegation mit den Worten zu- rück: ‘Wir sind gerade erst selbsternannte Lehrer und Aufseher losgeworden!« Danach verabschiedete der Kongress eine Solidaritätserklärung »mit unseren kämpfenden Arbeiterbrüdern«. Es war bemerkenswert, wie wenig sich die Bauern an politischen Parteien beteiligten. Der Utopismus der Sozialrevolutionäre, ausgedrückt als »Sozialisierung allen Bodens« wurde von den Sozialdemokraten als naiv angegriffen, aber teilweise oder ganz bei ihrem 4. Kon- gress (1906) angenommen… Wenn Lenin nun sagte, Russland sei noch nicht kapitalistisch, blieb er im Rahmen seiner theoretischen Struktur und »stellte lediglich die Uhr zurück«.

  1. 97  ebenda S. 146. Plechanow sagte auf dem vierten Parteikongress, dass »Lenin auf die Nationalisierung des Bodens wie ein Sozialrevolutionär schaut. Er beginnt sogar, ihre Terminologie zu gebrauchen, z. B. spricht er von der Krea- tivität des Volkes… Es ist nett, alte Bekannte zu treffen, aber unerfreulich zu sehen, dass Sozialdemokraten populis- tische Ansichten annehmen.« ebenda S. 149.
  2. 98  ebenda S. 150. Lenin war von zwei ausländischen Modellen der Agrarentwicklung fasziniert, der preußischen »Revolution von oben« unter Bismarck und seinen Nachfolgern, und der amerikanischen Politik von freiem Land für Farmer, um den Westen zu erschließen.
  3. 99  ebenda S. 142.
  4. 100  1906 kam es zu Massenverkäufen von Boden durch den Landadel, den die ländlichen Aufstände in Schrecken ver-setzt hatten; die Bauern Land Bank erleichterte den Verkauf an Bauern. D. Atkinson: The End of the Russian Land

    Commune 1905-1930 (1983), S. 68.

  5. 101  ebenda S. 197-198.
  6. 102  Nach Shanins Meinung erinnerte man sich an Stolypin als »letzten großen Verteidiger der Autokratie. Stolypinwurde besiegt von der russischen konservativen Lobby. Er war als Russlands ‘zweiter Bismarck’ gepriesen worden« 16

gesamten Wirtschaft gefördert werden. Im Agrarbereich bedeutete dies die Bereitstellung von Krediten, um es einzelnen Bauern zu ermöglichen, die Dorfgemeinschaft zu verlassen und ihr eigenes Land zu erwerben, oft durch die Privatisierung von Gemeindeland. Stolypin wurde 1911 ermordet, aber seine Politik, mit dem Ziel, die Dorfgemeinschaft aufzubrechen, war bis 1917 in Kraft, in der Hoffnung, eine russische »Vendée« zu schaffen gegen jegliche zukünftige revolutio- näre Bewegung.103

Crisenoy führt aus: »Die herrschende Klasse lag nicht daneben…. Nach 1905-07 wurde die Mir in ihren Augen einer der Gründe für den bäuerlichen Radikalismus… Wir müssen sagen, dass diese Verknüpfung von Mir, der revolutionären Bauernbewegung und deren Forderungen nach Land für alle, bis auf die Sozialdemokraten, offensichtlich war. Aber Lenin war vom Gegenteil überzeugt. Für ihn war die Dorfgemeinschaft nach wie vor nicht mehr als eine ,›juristische Hülle, die künstlich am Leben erhalten wurde‹… Für Lenin war der Ruf des Bauern nach Verstaatlichung des Bodens negativ und sollte dessen instinktives Bedürfnis, ›Eigentümer‹ zu sein, nicht verschleiern … Aus Lenins Sicht wusste der Bauer nicht, was er wollte, wusste nicht einmal, was er sagte … Für Lenin (gab es) keinen Zweifel: Die Verstaatlichung des Bodens bringt eine kapitalistische Agrarorganisa- tion mit sich.«104

In der Tat hatten Lenin und Stolypin eine ähnliche Sicht vom unternehmerischen Bauern als einem Förderer der kapitalistischen Entwicklung in Russland. Um die Abkehr seiner Haltung von jener, die er von 1899 bis 1905 vertreten hatte, zu verteidigen, »schwor Lenin seiner vorherigen Ansicht, dass Russland bereits kapitalistisch war, ab«.105 Wie Stolypin sah er die Rolle der Regierung so ähn- lich wie im frühen preußischen Modell. Aus seiner Sicht würde Stolypins Reform »die inkompeten- ten Gutsbesitzer ermutigen, bourgeoise ›Junker‹ im preußischem Stil zu werden«.106 Die Verstaatli- chung würde die feudalen Überreste beseitigen und freie Konkurrenz wie in Amerika ermöglichen.107 »Trotz Zitaten aus dem ›Kapital‹ und Mehrwerttheorien war Lenin in Bedrängnis zu argumentieren, dass Marx einen ›gewissen Stolz über die wirtschaftlichen Tugenden des kleinen Bauern empfunden hatte‹.«108 Wie Kingston-Mann einwirft: »Dies war ein taktischer Zug von ihm, welcher den Druck widerspiegelte, unter den die komplexe Realität der russischen Situation seine westlich-zentrierte Ideologie setzte … Die Dorfgemeinschaft spielte keine Rolle in Lenins Planungen und Strategien… Lenin verspottete die Vorstellung, die ›mittelalterliche‹ Dorfgemeinschaft würde irgendwelche egalitären Funktionen bewahren.«109 »1907-08 sagte Lenin, der Prozess der Ausdifferenzierung auf dem Land habe bereits alles bis auf den Namen der Dorfgemeinschaft zerstört. Eine nach wie vor funktionierende Dorfgemeinschaft war für Lenin unvorstellbar… Überzeugt davon, dass der Bauernschaft historisch signifikante Formen der sozialen Organisation fehlten, verstand Lenin die Bauern der Dorfgemeinschaft unangemessenerweise lediglich als Werkzeuge der Kulaken … Lenin kam einer realistischen Einschätzung jedoch näher als irgendein anderes Mitglied der RSDLP.«110 Im Zuge von Stolypins Agrarreformen verließen nach einigen Schätzungen ein Viertel bis ein Drit- tel aller russischen Bauern zwischen 1906 und 1917 die Dorfgemeinschaften. (Russland wurde in diesen Jahren einer der weltweit größten Exporteure von Lebensmitteln, während es dort gleichzei- tig schreckliche Hungersnöte gab.) Die Bauern der Dorfgemeinschaften reagierten auf dieses Ab-

(der erste war Witte gewesen – LG) Shanin, a.a.O. S. 236

  1. 103  Kingston-Mann, a.a.O. S. 102. Die Vendée war eine Region in Westfrankreich, deren Bauern sich den konterrevo-lutionären Kräften 1792 gegen die Jakobiner angeschlossen hatten.
  2. 104  Crisenoy, a.a.O. S. 194-196.
  3. 105  ebenda S. 103.
  4. 106  ebenda S. 104. Die Junker waren vorkapitalistische Grundeigentümer im östlichen Preußen, die sich als Kapitalis-ten neu erfunden hatten – während sie auf ihren Gütern quasi-feudale soziale Verhältnisse aufrechterhielten. Siehe die Beschreibung bei Alexander Gerschenkron, Bread and Democracy in Germany (1943). Lenin spürte auch, dass die Farmer im amerikanischen Westen prosperierten, weil das Land dort dem Staat gehörte und somit keine über- flüssigen Ausgaben für Pacht oder Kauf anfielen.
  5. 107  Crisenoy, a.a.O. S. 105.
  6. 108  ebenda
  7. 109  ebenda S. 106-107.
  8. 110  ebenda S. 107-110.

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trünnigwerden oft gewalttätig.111 Zwei bis drei Millionen Bauern erhielten in der Dekade nach 1906 Eigentum, das entspricht ungefähr einem Viertel aller zwölf Millionen bäuerlichen Haushalte im europäischen Teil Russlands.112 Hindernisse der Reform waren mangelnde Straßen, lange Winter und dass die Dorfversammlungen die schlechtesten und entlegensten Ländereien an diejenigen abgaben, die sie verlassen wollten.113 Aus Crisenoys Sicht waren Stolypins Reformen auch gegen die Überbevölkerung, den Landmangel und das Kommunaleigentum gerichtet.114 Auch sie sieht Lenins Bruch mit den Konzepten der II. Internationale nach 1905-07 nur als »sehr relativ« an; er verwechselte nach wie vor, wie schon 1899, kapitalistische Landwirtschaft mit warenförmiger Landwirtschaft [»commodity agriculture«]. 1915 schrieb er immer noch: »Die Entwicklung des Kapitalismus besteht vor allem im Wandel von der Naturalwirtschaft zur Warenwirtschaft.«115 Um seinen Fehler zu erkennen, schreibt Crisenoy, hätte er mit dem brechen müssen, was er 20 Jahre vorher gesagt hatte. »Indem er die Verbindung der Bauern zur Mir nicht erkannte, sah Lenin auch nicht die Gründe des Scheiterns von (Stolypins) Reform und einen der Gründe für die Revolution von 1917.«116 In den Revolutionsjahren 1917-19 brach ernsthafte Gewalt nach wie vor gegen »Ab- spalter« der Dorfgemeinschaften aus, und nicht, wie Lenins Theorie es vorhersagen würde, zwi- schen reichen und armen Bauern.

V. Die russischen Bauern und die Kommune 1917 und danach

Nach der Februarrevolution, die die Romanow-Dynastie stürzte, dauerte es nicht einmal einen Mo- nat bis zu einem massenhaften Aufstand der Bauernschaft. Die Bauern griffen die großen Landbe- sitzer an, und die Kommunebauern griffen die Einzelhöfe an. Wie 1905 stand die Kommune im Mittelpunkt der Bauernkämpfe und übernahm die Beschlagnahmung und Umverteilung von Ländereien.

Nachdem Lenin nach seiner Rückkehr und den berühmten »Aprilthesen« die bolschewistische Par- tei »neu orientiert« hatte, sagte er, die Sowjets auf dem Land hätten weitaus größere schöpferische gesellschaftliche Phantasie gezeigt als die provisorische Regierung.117 Im März/April 1917 war eine bolschewistische Rote Garde auf dem Land entstanden. In der Prawda vom 4. April schrieb Lenin: »Wenn der russische Bauer die Revolution nicht entscheidet, wird der deutsche Arbeiter sie entscheiden.«118 Lenins vorläufiges Programm im April/Mai 1917 bestand 1. in der Nationalisierung

  1. 111  Der neueste Forschungsstand hebt, Kingston-Mann zufolge, die kurzlebige Wirkung der Reform hervor, 1915 pflügten zwei Drittel der »neuen Eigentümer« noch immer auf unzusammenhängenden Streifen, durchzogen von kommunalen Ländereien. (ebenda S. 123).
  2. 112  1913 trug die Landwirtschaft 43 Prozent zum russischen Bruttosozialprodukt bei, Getreideexporte mussten die russische Zahlungsbilanz ausgleichen. Im Vergleich dazu waren in Frankreich 1914 noch 60 Prozent der Bevölke- rung bäuerlich, aber das Nationaleinkommen pro Kopf war viermal höher als in Russland. 1914 war die bäuerliche Bevölkerung in Russland 37 Prozent höher als 1897. Atkinson, a.a.O. S. 102-104.
  3. 113  So erklärt Crisenoy dieses »magere Ergebnis«. (Crisenoy a.a.O. S. 229-230)
  4. 114  Atkinson, a.a.O. S. 81, kommt zu einer anderen Einschätzung: 1916 waren 16 Millionen dessiatins (1 dessiatin sindetwa 93 Ar) an einzelne Besitzer verteilt, das waren 14 Prozent der 115 Millionen dessiatins, die 1905 in kommunalem Besitz waren. 1915 besaßen Bauern 35 Prozent der 97 Millionen dessiatins in Privatbesitz. Tatsächlich stieg in dieser Periode der kollektive Landbesitz.
  5. 115  Lenins Artikel »Neue Daten« im Bd. XXII seiner Werke, zitiert nach Crisenoy a.a.O. 248. Nach ihrer Meinung hatten Lenin und Stolypin denselben Traum, den russischen in einen europäischen Bauern zu verrwandeln (S. 249). »Lenin ist wie Stolypin ein glühender Verteidiger des Verschwindens der Landkommune.« (S. 251). Er bleibt über- zeugt, dass die Bauern gegen die Kommune sind, wie er es in seinem Artikel »Unsere Liquidatoren« ausführt, in Werke Bd. XVII, Januar-Februar 1911.
  6. 116  ebenda S. 253.
  7. 117  Kingston-Mann, a.a.O. S. 141.
  8. 118  ebenda S. 142-143. // In Wirklichkeit geht es hier um die erst am 7. November 1924 in der Prawda veröffentlichteRohfassung der »Aprilthesen«, die Lenin am 4. April auf einer Konferenz des Petrograder Sowjets vorstellte. »Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution« (Aprilthesen): »REPORT AT A MEETING OF BOLSHEVIK DELEGATES TO THE ALL-RUSSIA CONFERENCE OF SOVIETS OF WORKERS’ AND SOLDIERS’ DEPUTIES APRIL 4 (17), 1917«: https://www.marxists.org/archive/lenin/works/1917/apr/04d.htm. Goldner zitiert nicht direkt aus Lenin, sondern aus der Quelle, aus der er einen Großteil des Materials für seinen

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des gesamten Bodens, 2. in der Umwandlung der großen Güter in landwirtschaftliche Modellbe- triebe unter Räten von landwirtschaftlichen Arbeitern und geleitet von Agronomen. Aber wie Crisenoy beobachtet, waren diese Formulierungen der Bauernbewegung vollkommen fremd.119 Die Bolschewiken waren zu dieser Zeit immer noch eine Minderheit, kleiner als die Menschewiken und die Sozialrevolutionäre. Im April hatten Arbeiter und Soldaten Demonstranten mit bolschewis- tischen Schildern verprügelt. Trotzdem erzählte Lenin dem Kongress der Bauerndeputierten im Mai, dass die Bauern sofort den gesamten Boden an sich bringen sollten – zur Konsternierung der provisorischen Regierung und besonders der Sozialrevolutionäre, die Ministerien leiteten und sich in der Bodenfrage nicht festlegen wollten. Die sozialrevolutionären und menschewistischen Minis- ter waren bereit, jede Umverteilung von Boden an die Bauern bis zum Zusammentreten einer Ver- fassunggebenden Versammlung zu vertagen. Einige sozialrevolutionäre Beobachter stellten verärgert fest, welche Wirkung Lenins Aufforderung zu Landbesetzungen hatte und wie die Bolschewiken den sozialrevolutionären Ministern in der Koalition zusetzten.120 Tschernow, ein führender SR-Poli- tiker wurde von einem Bauern mit den Worten angegriffen: »Warum ergreifst du nicht die Macht, du Hurensohn, wenn sie dir gegeben wird?«121 Tatsächlich forderte der Kongress der Bauerdeputier- ten Bauernsowjets überall, und die Angriffe auf das Individualeigentum nahmen zu.

Als die Provisorische Regierung und v. a. die Front im Sommer 1917 zerfielen, desertierten die Bauern massenhaft aus der Armee und kehrten in ihre Dörfer zurück, um etwas vom Land abzube- kommen, das gerade von den Adelsgütern verteilt wurde. Wie die Räte 1905 war diese Bewegung nicht das Werk einer politischen Partei. Ihren Höhepunkt erreichten die Bauernunruhen im Oktober 1917. Direkt nach dem Sturz der Provisorischen Regierung verkündeten die Bolschewiki ihr Boden- dekret, mit dem sie die durch die Landbesetzungen geschaffenen Tatsachen anerkannten und den Bauern erlaubten, Kommunen oder Artels (Genossenschaften) zu gründen. Das bolschewistische Bodendekret war im wesentlichen das Programm der SR. Eine Welle des Egalitarismus schwappte über das Land, und 1917-18 dehnte sich die Bauernkommune über alle bisherigen historischen Grenzen hinaus aus.122 Die Bauern verteilten Ländereien des Adels, der Kirche und der Klöster an Familien nach dem traditionellen Kriterium der »Zahl der Esser«; einige durch Stolypins Reform selbständig gewordene Bauern wurden zurück in Kommunen gezwungen.123 Bis zum Frühjahr 1918 waren die Beschlagnahmungen im wesentlichen vollendet. 96,8% aller Ländereien waren in Bauernhand, und drei Millionen landlose Bauern hatten Parzellen bekommen. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Kommune fast alle ländlichen Haushalte.124

Nach Kingston-Manns Darstellung hatte Lenin immer darauf bestanden, dass die mit den bäuerli- chen Landbesetzungen verbundenen Risiken viel geringer waren als der Nutzen aus den Angriffen auf das bürgerliche Eigentum. Das aus 242 Bauernmandaten und dem Agrarprogramm der SR über- nommene Bodendekret von Oktober 1917 hatte das Privateigentum an Boden abgeschafft und brach mit der traditionellen Position der russischen Marxisten hinsichtlich der kommunalen Traditionen der Bauern. Es argumentierte populistisch, und die nichtbolschewistische Linke erkannte, wie zweck- dienlich, ja opportunistisch es war: »Traditionell leugneten die russischen Marxisten die soziologi- schen Einsichten, die Marx selbst an den Arbeiten von Populisten wie Daniel’son gelobt hatte.«125…

Text hat, nämlich Esther Kingston-Mann: »Lenin and the Problem of Marxist Peasant Revolution« (1983). Aber Kingston-Mann zitiert Lenin falsch. Lenin sagte in dem zitierten Satz nämlich genau das Gegenteil: »If the Russian peasant doesn’t settle the revolution, the German worker will.« Deshalb haben wir die Stelle in der deutschen Übersetzung korrigiert.

  1. 119  Lenin war dies bewusst. Ein paar Monate später, vor der Oktoberrevolution, räumte er ein »was (die Bauern) wollen, ist ihren kleinen Besitz zu behalten, egalitäre Vorstellungen erhalten und sie periodisch zu erneuern« (»Aus dem Tagebuch eines Publizisten. Bauern und Arbeiter« Sept 1917, Bd. XXV) zitiert nach Crisenoy, S. 273. Aber Lenins Realismus ließ ihn zugeben, dass die Bauern an der Kommune hängen und sie ausgeweitet sehen wollten.
  2. 120  ebenda S. 157.
  3. 121  ebenda S. 162.
  4. 122  Atkinson a.a.O. S. 174.
  5. 123  ebenda S. 176.
  6. 124  ebenda S. 185.
  7. 125  ebenda S. 173, 179, 183.

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»Den Bolschewiki und Menschewiki war nicht klar, dass schon vor dem Krieg immer Bauern in die Kommunen zurückgekehrt waren, sie maßen den erfolgreichen Versuchen der Bauernschaft, die Otrubschtschiki (die von Stolypin geförderten »Abspalter«, LG) 1917 wieder in die Kommunen zurückzuholen, keine konstruktive sozialistische Bedeutung bei.«126 »Ihre Besessenheit mit dem Kapitalismus auf dem Land … und ihr Bewusstsein, dass es unter dem Bauern individualistische Eigentumsfanatiker und Eiferer gab, hatte die russischen Marxisten häufig blind gemacht für die Fakten der ländlichen Ökonomie, für den breiten Widerstand gegen die Stolypin’schen Reformen und für die kollektivistischen Haltungen von Bauern, die die Abschaffung des Privateigentums an Boden forderten … In offiziellen Kreisen ging die Angst vor den Kulaken um, während die Bauern- kommunen gleichzeitig eine so noch nie dagewesene Umverteilung des Bodens an die Armen ohne jede Hilfe der sowjetischen Behörden durchführten.«127

Schon früh mischte sich die Sowjetregierung in die Verteilung von Tieren und landwirtschaftlichem Material ein, eine Politik, die es den armen Bauern unmöglich machen sollte, Landwirtschaft zu be- treiben, und sie den neuen Staatsgütern (Sowchosen) zutreiben sollte. Sobald die Bolschewiki an der Macht waren, hatten sie sich gegen die weitere Auflösung der Güter gestellt, welche die Bauern wiederum als weitere Garantie dafür betrachteten, dass die ehemaligen Eigentümer nie zurückkeh- ren würden. Die Politik der Bolschewiki förderte Spezialisten auf dem Land (als Sowchosen-Di- rektoren). Auf dem 7. Sowjetkongress wurde bereits Kritik an den Privilegien der Spezialisten laut. Manchmal war der Direktor der Sowchose der frühere Landeigentümer! In diesen Debatten nahm sich Lenin erneut ein Beispiel am deutschen (preußischen) Staatskapitalismus: Seine modernen Techniken standen im Dienst des Imperialismus der Junker, aber »wenn man den ›Staatskapialis- mus‹ durch den ›sowjetischen Staat‹ ersetzt, hat man alle Bedingungen des Sozialismus.«128

Aber zum Streit über Verwaltungsmaßnahmen kam schon bald stark erschwerend der drastische Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion hinzu. Im November 1917 hatte Russland noch 641 Millionen Tonnen Weizen produziert. Die Requirierungsmaßnahmen für die Städte begannen An- fang 1918, als nur 7 Prozent des für Petrograd und Moskau geplanten Getreides geliefert wurde. Mit der Intensivierung des Bürgerkriegs im Sommer 1918 fielen einige fruchtbare Böden unter die Kontrolle der Weißen und es kam zu einer Hungersnot. Als Reaktion auf die Requirierungen fuhren die Bauern die Produktion auf den Grundbedarf für ihre Familien zurück; die bewirtschaftete Fläche ging bis 1919 um 16 Prozent zurück. Die Bolschewiki hatten auf die Unterstützung der ärmsten Bauern gerechnet, aber nach der Umverteilung der Ländereien gehörten viele gar nicht mehr zu den Ärmsten; die Komitees der armen Bauern funktionierten nur unter großen Schwierigkeiten. Die Parteizellen auf dem Land hatten 14.700 Mitglieder, bestanden aber hauptsächlich aus Funktionä- ren. Bis 1921, nach drei Jahren Bürgerkrieg, waren die Ernteerträge auf 40 Prozent des Niveaus von 1914 gesunken. Zwischen 1918 und 1920, in den Jahren des Kriegskommunismus, starben 7,5 Millionen Russen an Seuchen, Hunger und Kälte; vier Millionen waren im Bürgerkrieg umgekom- men. Die Menschen kehrten auf das Land zurück, um zu überleben; von den drei Millionen Arbeitern, die 1917 die proletarische Seite der »doppelten Revolution« dargestellt hatten, waren 1922 nur noch 1,2 Millionen in den Fabriken übrig.

1921 war von der in den Sowjets und Arbeiterräten verkörperten proletarischen Demokratie von 1917 auch nichts mehr übrig, diese waren zu erweiterten Organen der Partei(linie) geworden. Die linken Sozialrevolutionäre, die sich ein paar Monate mit den Bolschewiki die Macht teilten, wurden im Juli 1918 unterdrückt, nachdem sie den deutschen Botschafter ermordet hatten, um das Abkom- men von Brest-Litowsk zu untergraben.129 Die Repression gegen die anarchistischen »Banditen«

  1. 126  ebenda S. 185.
  2. 127  ebenda S. 193-194.
  3. 128  Crisenoy, S. 277-279; Das Leninzitat ist aus »Über ‘linke’ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit«Werke, Bd.XXVII, zitiert nach Crisenoy S. 281-282.
  4. 129  Der Ende Februar 1918 unterzeichnete Vertrag von Brest Litowsk war die Kapitulation der Sowjetunion gegenüberden Mittelmächten. Russland trat darin 34% seiner Bevölkerung, 32% seines Ackerlands, 54% seiner Industrie und 89% seiner Kohlenbergwerke ab. Die Bolschewistische Partei beschloss seine Annahme nach einer Reihe von turbulenten Treffen, bei denen eine Mehrheit ihn zunächst abgelehnt hatte. Neben vielen anderen Berichten kann

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hatten schon Anfang 1918 begonnen. Im März 1921 schlugen die Bolschewiki den Aufstand von Kronstadt nieder; schon zuvor hatten sie die anarchistische bäuerliche Machno-Bewegung in der Ukraine unterdrückt. Auf dem 10. Parteitag, ebenfalls im März 1921, wurde die Fraktionsbildung innerhalb der Partei verboten. Auf demselben Parteitag wurde auch die marktgetriebene Neue Öko- nomische Politik (NEP) verkündet. Oppositionelle Strömungen in der bolschwistischen Partei wie <Mjasnikows> Arbeitergruppe oder die Demokratischen Zentralisten waren unterdrückt worden. 1922 wurden die verbliebenen unabhängigen Menschewiki vor die Wahl Hinrichtung oder Exil gestellt. Ab diesem Punkt beteiligten sich an den einzigen offenen Diskussionen in Sowjetrussland mit irgendwelchem realen Einfluss auf die Ereignisse nur noch ein paar hundert Alte Bolschwiki in den obersten Rängen einer Partei, die mit Unbehagen über 150 Millionen Menschen herrschte, überwiegend Bauern. Nach der Machtergreifung im Oktober hatte die Partei auch hunderttausende von neuen Mitgliedern aufgenommen, von denen viele sich eher für einen Job und eine Karriere interessierten als für die reale Geschichte und Perspektive des Bolschwismus.130 Eine Reihe von ehemaligen Bourgeois und sogar große Landbesitzer warfen sich den neuen Machthabern in die Arme und wurden oft Direktoren von Sowchosen, Fabriken und Bergwerken.131 Der Kern einer neuen herrschenden Klasse war geschaffen.132 90 Prozent der staatlichen Verwaltungsbeamten hatten schon unter dem zaristischen Regime gedient, und 90 Prozent der Offiziere in der Roten Armee waren zaristische Offiziere gewesen.

Die bolschewistische Partei an der Macht blieb dem Erbe des Modernisierungs-Marxismus der Zweiten Internationale zur Agrarfrage verhaftet. Daher blieb die Kluft zwischen den verschiedenen Fraktionen des Regimes – allen – und der Realität auf dem Lande, wo die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung lebte, so groß wie vor der Machtübernahme der Bolschewiki. Wie der Historiker John Marot sagte, bedeutete die Umsetzung der Entwicklungspläne aller Fraktionen – der trotzkisti- schen Linken, der bucharinistischen Rechten und des stalinistischen »Zentrums« die »Zerstörung der bäuerlichen Lebensweise«,133 der Kommune. Lenin hatte nach 1905 eingesehen, dass er das Vorhandensein des Kapitalismus auf dem Land in Russland übertrieben hatte, aber wie bereits gesagt hatte er nur die Uhr zurückgedreht, die Dynamik aber nicht gestoppt.
Das grundlegende Problem bestand darin, dass die bäuerliche Welt mit der Mir im Zentrum über- haupt nicht in Lenins Zeitplan vorkam, weder verspätet noch aktuell noch sonst wie; die Besitzer der frisch verteilten privaten Parzellen im Rahmen der Mir waren keine kapitalistischen Bauern, die für den Markt produzierten, sondern an Haushaltsökonomien beteiligt, produzierten überwiegend für den Eigenbedarf und benutzten gelegentlich Märkte, um die relativ wenigen Dinge zu kaufen, die sie nicht selbst herstellen konnten. Ihr Überschuss war vorher an den zaristischen Staat, der

man als Grundlage dazu Isaac Deutscher lesen: Der bewaffnete Prophet. Trotzki 1879-1921 (1980 hrsg. ) S. 359- 394. Aus Lenins Sicht war es eine erfolgreiche Wette, die sich Monate später beim Zusammenbruch der Mittel- mächte auszahlte, wodurch der Vertrag nichtig wurde. Für seine Gegner war der Vertrag der erste Schritt, bei dem die Sowjetunion nationale Interessen über die internationale Revolution stellte. Die Analyse von Guy Sabatier in dieser Perspektive findet sich auf libcom: http://libcom.org/book/export/html/45641

  1. 130  Charles Bettelheim, eine Quelle, die ich nicht gerne zitiere, erzählt die Geschichte der Gruppe um Oustrialov, einem ehemaligen Kadetten im Pariser Exil, die als Smenovekhovtsy bekannt ist, nach dem Namen ihrer Zeitung, was »neue Richtung« bedeutet. Diese Gruppe rief die in Russland verbliebenen bürgerlichen Intellektuellen dazu auf, sich um das Regime zu sammeln, das in ihren Augen seine Thermidor-Phase erreicht hatte. Bucharin analysierte diese »Freunde« ganz besonderen Typs, die hofften, dass unter dem Deckel des »Wissensmonopols« die bürgerliche Macht in Sowjetrussland wieder hergestellt werde. Sie glaubten, die Oktoberrevolution habe eine unerlässliche historische Aufgabe vollbracht, von der eine neue Bourgeoisie nun profitieren könne. Die Revolution hatte die »mutigsten und erbarmungslosesten Feinde des verrotteten Zarenregimes mobilisiert, die korrupte Schicht der Intelligenzija zermalmt, die nur wusste, wie man zu Gott und zum Teufel spricht… und den Weg für die Schaffung einer neuer Bourgeoisie freigemacht.« zitiert nach Bettelheim Les luttes de classes en URSS, Bd. l (1973), S. 263. (Bettelheims Buch ist trotz solcher Einsichten beeinträchtigt durch seine unzähligen Verbiegungen in Richtung Maos China, das 1973 in Paris auf dem Höhepunkt seines Prestiges war.)
  2. 131  Crisenoy, a.a.O. S. 332.
  3. 132  Siehe Simon Pirani, The Russian Revolution in Retreat, 1920-1924. Verfügbar auf Libcom:http://libcom.org/history/russian-revolution-retreat-1920-24-soviet-workers-new-communist-elite-simon-pirani
  4. 133  Marot, a.a.O. S. 11.

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Steuern erhob, um die Industrialisierung zu finanzieren, und an die Großgrundbesitzer gegangen, die ihn verzehrten. Als diese beiden Belastungen wegfielen, blieb als externer Zwang nur die bescheidene Besteuerung durch den Sowjetstaat. Kein von einer kapitalistischen Rationalität der Bauern ausgehendes Industrialisierungsprogramm hatte irgendeine Chance, seine Ziele zu erreichen. In Marots Worten war Bauernökonomie weder kapitalistisch noch sozialistisch, und »die Bauern hatten wenig oder gar kein Interesse an der kollektiven Organisation der Produktion und der Verteilung über die Grenzen des Dorfes hinaus.«134

Im Frühjahr 1921 waren der Rückzug und die Isolierung der in den strategischen Vorstellungen von Lenin und Trotzki (in ihren verschiedenen theoretischen Begrifflichkeiten, s. unten) von Anfang an internationalistischen russischen Revolution nicht mehr zu übersehen. Die Weltrevolution, die 1917/18 nur noch Wochen oder höchstens Monate weit weg schien, war jetzt wieder in jahrelange Entfernung gerückt. In schneller Abfolge fanden im Frühjahr 1921 die Niederschlagung des Kron- stadter Aufstands, das Scheitern der »Märzaktion« in Deutschland, das englisch-sowjetische Han- delsabkommen, die Umsetzung der NEP, die Abschaffung der Fraktionen in der Bolschewistischen Partei, der Vertrag von Riga, die Formalisierung der sowjetischen Niederlage im Krieg mit Polen 1920 und der Handelsvertrag mit Atatürks nationalistischer Regierung in der Türkei statt, die gerade zwei Monate vorher das gesamte ZK der Türkischen Kommunistischen Partei ermordet hatte.135 Diese allgemeine Abnahme der Hoffnung auf eine Revolution in Westeuropa schwächte die Position des internationalistischen, kosmopolitischen Flügels der bolschewistischen Partei und stärkte die Position der internen »Praktiki«, der altgedienten Veteranen des Parteiapparates aus den Jahren der Illegalität unter der zaristischen Autokratie, wie sie von Josef Stalin personifiziert wurden. Das Regime wandte sich nach innen, und da auf dem Land immer noch Hungersnöte herrschten, hatte nichts höhere Priorität als die Bauernfrage.

Für Lenin war das bolschewistische Regime eine doppelte Revolution auf der Grundlage der »demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern«, die die bürgerliche Revolution der Aus- merzung der vorkapitalistischen Landwirtschaft vollendete. Er schrieb: »Ja, unsere Revolution ist eine bürgerliche Revolution, solange wir mit der Bauernschaft als ganzer marschieren. Wir haben das seit 1905 hunderte und tausende Male gesagt.«136

Diese bürgerliche Revolution konnte sich seiner Meinung nach dann, und nur dann, zu einer sozialistischen Phase weiterentwickeln, wenn ihr eine Revolution im Westen zu Hilfe kam. Das Bündnis (die sogenannte »Smytschka«) mit der Bauernschaft blieb in Lenins strategischer Perspektive für den Rest seines Lebens zentral. Er hätte Stalins Verkündung des »Sozialismus in einem Land« 1924 wütend abgelehnt.137

134 ebenda S. 35.
135 Siehe meinen Artikel »Socialism in One Country before Stalin: The Case of Turkey, 1917-1925« auf

http://home.earthlink.net/~lrgoldner/turkey.html
136 Lenin, in »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«, zitiert nach Marcel van der Linden: Der

westliche Marxismus und die Sowjetunion, (2009, hrsg.), S. 16. Trotzki selbst entwickelt dies weiter in Permanente Revolution, Kapitel 5: »Der bolschewistische Slogan (›demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern‹ – LG) wurde tatsächlich realisiert – nicht als morphologischer Charakterzug sondern als sehr große historische Realität. Er wurde aber nicht vor, sondern nach dem Oktober realisiert. Der Bauernkrieg, in den Worten von Marx, unterstützte die Diktatur des Proletariats. Die Zusammenarbeit der beiden Klassen wurde durch den Oktober auf gigantischer Stufenleiter realisiert…Und Lenin selbst schätzte die Oktoberrevolution – ihr erstes Stadium – als die wahre Verwirklichung der demokratischen Revolution ein und somit auch als die wahre, wenn auch veränderte, Verkörpe- rung der strategischen Parole der Bolschewisten.« (http://www.marxists.org/archive/trotsky/1931/tpr/pr05.htm)

137 Da Trotzki überall in der westlichen linken Kritik an Stalin auftaucht, ist es an diesem Punkt notwendig, seine Differenzen zu Lenins Formulierungen 1917-1918 zu markieren; Trotzkis Analyse des Stalinismus gab auch den Rahmen für viele Revolutionäre ab, die später mit ihm brachen und Russland als Klassengesellschaft (meistens als »Staatskapitalismus«) bezeichneten, wie CLR James, Castoriadis, Shachtman, oder Dunayevskaya.

Trotzkis Analyse der Revolution in Zeiten des NEP ergab sich aus seiner Theorie der »permanenten Revolution«, die er zusammen mit Alexander Parvus während der Revolution von 1905 entwickelt hatte. In dieser Sicht machte es die Schwäche der Bourgeoisie in einem rückständigen Land wie Russland für die Arbeiterklasse möglich, eine Revolution anzuführen, die in Verbindung mit einer proletarischen Revolution im Westen die »bürgerliche Etappe« in eine internationale proletarische Revolution stürzen konnte.

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Es kann hier nicht drum gehen, eine spezielle Theorie des »Klassencharakters der Sowjetunion« im Sinne der Debatten in den 1960er und 70er Jahren über Staatskapitalismus, bürokratischen Kollekti- vismus oder degenerierten Arbeiterstaat vorzuschlagen. Grundsätzlich neige ich eher zur Klassenge- sellschaft als zum Arbeiterstaat, aber wenn ich das im Detail erklären müsste, würde ich mich noch weiter von meinem Hauptziel entfernen, nämlich die Auswirkungen der Agrarfrage und das Schick- sal der russischen Bauernkommune in der Formung dieses Ergebnisses zu verfolgen. Ich erwähne Trotzki und seine Theorie der permanenten Revolution vor allem, um auf den Unterschied zwischen seinem begrifflichen Rahmen und dem von Lenin hinzuweisen, der diese Theorie nie akzeptierte,138 auch wenn sie sich im Frühjahr 1917 sehr nah waren.

Die russische Arbeiterklasse hatte ihre eigenen Gedanken über die auf den Trümmern der von ihr 1917 geschaffenen Sowjets und Arbeiterräte errichteten NEP und die Rückkehr der Managerelite, von der sie dachte, dass sie diese damals gestürzt hätte. Im August und September 1923 führte sie eine Reihe von militanten Streiks durch. Eine zweite Arbeitergruppe war im Frühjahr dieses Jahres entstanden und spielte eine wichtige Rolle bei der Koordinierung dieser Streiks. Laut Marot »suchte sie Bündnisse mit Elementen früherer Oppositionen. Die Arbeitergruppe kritisierte die Neue Öko- nomische Politik als Neue Ausbeutung des Proletariats durch bürokratisch ernannte Fabrikmanager und Industriedirektoren und versuchte unter Arbeitern innerhalb und außerhalb der Partei zu rekru- tieren. Sie wollte der massiven Streikwelle politische Definition und Richtung geben… Sie suchte sogar im Ausland nach Unterstützung unter den linken Elementen der KPD … und unter Gorters holländischen Kommunisten.«139

Und wo war Trotzki während dieser Streiks? Marot ist sehr deutlich:
»Trotzkis politische Opposition gegen die Fraktionstätigkeit der Arbeitergruppe 1923 drückte nach außen sein festes und ideologisch verinnerlichtes Beharren auf einer einheitlichen Einparteienherrschaft aus… Trotzki weigerte sich sogar, sich öffentlich mit den über 200 Mitgliedern zu solidarisieren, die sich aktiv an der Streikbewegung der Arbeiter beteiligten und danach aus der Partei ausgeschlossen worden waren … Obwohl Trotzki so gut wie nichts dafür tat, der Unzufriedenheit an der Basis außerhalb der Kommunistischen Partei politische Führung zu verleihen, war er fast immer dazu bereit, positiv auf Einladungen zur politischen Zusammenarbeit mit dem einen oder anderen aus der Parteiführung zu reagieren.«140
Lenins sich rapide verschlechternder Gesundheitszustand zwang ihn dazu, sich Anfang 1923 aus der aktiven Politik zurückzuziehen, ein Jahr später starb er. In den letzten Monaten seiner stark einge- schränkten Aktivität hatte er geplant, bei einem der nächsten Parteitage unter Stalin »eine Bombe zu werfen«, und in seinem Testament forderte er Stalins Entfernung aus der Position des Generalsekre- tärs der Partei.141
Die Tatsache, dass Sowjetrussland aus dem Bürgerkrieg 1921 mit dem Kern einer neuen herrschen- den Klasse an der Macht hervorging, lässt immer noch das Schicksal der Mir offen, in der 98,5 Prozent der Bauernschaft, die selbst wiederum mindestens 90 Prozent der russischen Bevölkerung ausmachten, bis zu ihrem Ende 1929/30 lebte. Es ist daher wichtig, den Fraktionskampf auf den »Kommandohöhen« der bolschewistischen Partei bis zu Stalins Kollektivierungen zu skizzieren. Nichts von dem, was tatsächlich geschah und Sowjetrussland vom »gelenkten Kapitalismus« der NEP von 1921, die nur eine Verschnaufpause bis zur Revolution im Westen gewähren sollte, in die unter Stalin 1929-32 gefestigte reife totalitäre Form verwandelte, war vorherbestimmt. In den Kämpfen dreier Fraktionen bis 1927 befürwortete niemand, einschließlich Stalin, die gewaltsamen Kollektivierungen, die der Sowjetunion schließlich die definitiven Konturen verlieh, mit welchen

  1. 138  Ein gutes und typisches Beispiel der staatskapitalistischen Analyse des Sowjet, das mit Trotzki bricht, aber unmittelbar aus dessen Bezugssystem hervorgeht, ist Walter Daums Buch von 1990 The Life and Death of Stalinism. Obwohl es insgesamt den meisten anderen Arbeiten in der staatskapitalistischen Linken überlegen ist, wird im ganzen Buch die Mir kein einziges Mal erwähnt. Die Bauernfrage wird, wie in den meisten Büchern dieses Genres, nur vor dem Hintergrund der 1920er Fraktionskämpfe abgehandelt.
  2. 139  Marot, a.a.O. S. 94.
  3. 140  ebenda S. 95.
  4. 141  Als Gesamtübersicht siehe Moshe Lewins Lenin’s Last Struggle (1968).

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sie der Welt dann als »Kommunismus« bekannt wurde.142 143
Moshe Lewin beschreibt die Situation der Mir kurz vor ihrer Zerstörung 1929/30 wie folgt (auch wenn seine Statistiken den oben zitierten teils widersprechen):
»Am Vorabend der Revolution gehörten weniger als 50 Prozent der Bauern noch der Mir an … Acht Millionen Haushalte hielten ihr Land in Privatbesitz, während 7,4 Millionen Bauernstellen immer noch in Gemeinbesitz waren. Der Verfall dieses Überbleibsels der alten Bauerngemeinschaft wurde noch beschleunigt von der zunehmenden sozialen Schichtung innerhalb der Bauernschaft. Während der Revolution wurde die Mir allerdings noch einmal wundersam wiederbelebt. Das Wunder lässt sich dadurch erklären, dass die Agrarreform, die die Bauern von den Fesseln des Feudalismus befreite, auch die Unterschiede unter ihnen sehr weitgehend einebnete. Nachdem sie die Pomeschniki [die letzten Nachkommen des Dienstadels des 16. bis 18. Jahrhunderts, LG] und einen Teil der Kulaken losgeworden waren, kehrten die Bauern zu den alten egalitären Verhältnissen der Mir und auch zu dieser Institution selbst zurück … Sehr deutlich zeigte sich die … gemeinschaft- liche Form des Landbesitzes am Landwirtschaftsgesetz von 1922, das sich sehr ausführlich damit beschäftigt. Die Partei schien diesen Faktor und seine möglichen Auswirkungen aber kaum zur Kenntnis zu nehmen … zwischen 1922 und 1927 war die Dorfgesellschaft durch die allgemeine Verbesserung der Wirtschaft deutlich stärker geworden, sie hatte mehr Geld und trotz der Versuche der Behörden, die [ländlichen Sowjets, LG] zu stärken, blieb die Mir die ›einzige für das wirtschaftliche Leben auf dem Land verantwortliche Leitungsorganisation‹.«144
Die Wende zur NEP 1921 belebte sowohl Industrie als auch Landwirtschaft im Sinne der bolsche- wistischen Strategie der »Lenkung des Kapitalismus«, um Zeit bis zur Revolution im Westen zu gewinnen. Man kann die NEP nicht als »Wiederherstellung des Kapitalismus« kritisieren, denn der Kapitalismus war überhaupt nie abgeschafft worden. Auf den Vorwurf der Arbeiteropposition auf dem 10. Parteitag im März 1921, dass die Bolschewiki einen Staatskapitalismus schaffen würden, antwortete Lenin, dass der Staatskapitalismus für das zurückgebliebene, immer noch von Kleinpro-

142 Mit diesem Ansatz distanziere ich mich von einigen Haltungen, die im libertären oder links-kommunistischen Milieu, zu dem ich mich grundsätzlich zähle, im Umlauf sind. Zuallererst weise ich den Allgemeinplatz zurück, den man bei Anarchisten findet, wonach das Entstehen des stalinistischen Russland keinerlei Erklärung bedürfe. Habe nicht schon Bakunin in seiner Auseinandersetzung mit Marx 1860 vorhergesagt, dass eine von Marxisten angeführ- te Revolution in der autoritären Herrschaft einer zentralisierenden intellektuellen Elite enden müsse? Darüber hinaus glaube ich nicht, dass es eine gerade Linie oder überhaupt viel von einer Linie von Lenins Pamphlet von 1902 Was tun? zu Stalins Russland gibt, besonders deswegen, weil Lenin nach 1905 zugab, dass er sich getäuscht hatte. Solch ein »teleologischer« Zugang hält nicht stand, wenn wir uns die Entwicklungen von den 1890ern bis zu den 1920er Jahren in einer dichten Monat-für-Monat Analyse anschauen. Ich kann die Geisteshaltung eines Milieus nicht verstehen, in der es lange Zeit »in« war, sich auf C.L.R. James zu beziehen, oder in neuerer Zeit in bestimm- ten Zirkeln auf Amadeo Bordiga, während es deutlich »out« ist, sich auf Lenin zu beziehen, den sowohl James wie Bordiga sehr bewunderten.

143 Was tun? ist kurz gesagt genauso sehr Lenins anti-Arbeiter- und anti-Produktions-Standpunkt (anti-»ökonomis- tisch«, in der Sprache von heute), eine polemische Streitschrift gegen einen engen Fokus ausschließlich auf Arbei- terkämpfe, Revolutionäre müssten ihre Kritik an der Unterdrückung in alle Schichten der Gesellschaft tragen, zu »Volkstribunen« werden – wie es sein Gebrauch von Kautskys Begriff, »das Bewusstsein von außen« zu bringen und sein Ruf nach einer strikt disziplinierten Eliteorganisation von Revolutionären zeigt. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Menschewiken, die Lenins engere Kriterien für die Mitgliedschaft in der Partei in der berühmten »Spaltungskonferenz« 1903 verweigerten, in aller Ruhe genau dieselben Kriterien 1906 in die Parteistatuten aufnahmen. Darüber hinaus schrieb Lenin unter dem Eindruck von 1905, dass die »… Arbeiterklasse instinktiv und spontan sozialdemokratisch (d. h. revolutionär – LG) ist, und mehr als zehn Jahre Arbeit der Sozialdemokratie haben viel dazu beigetragen, diese Spontaneität in Bewusstsein zu verwandeln.« (in »Über die Reorganisation der Partei«, Werke, Bd. 10, S. 13-23, zitiert nach Daum a.a.O. S. 106.) C.L.R. James schrieb in Facing Reality (1974 hrsg. S. 93-94) über die »alte Art der marxistischen Organisation« (womit er die Avantgarde-Partei meinte): »All diese Überzeugungen führten zur Schlussfolgerung, dass die Organisation das wahre Subjekt sei… Und wenn die Organisation in philosophischen Begriffen das Subjekt der Geschichte war, dann war das Proletariat das Objekt… Diese Vorstellung der Organisation ist den extremen Ansichten von Lenin in Was tun? inhärent. Er verwarf sie später, aber nicht kräftig und gründlich genug, wie es notwendig gewesen wäre, um zu verhindern, dass sie unendliches Unheil anrichten.«

144 Aus M. Lewin Russian Peasants and Soviet Power: A Study of Collectivization. (das frz. Original erschien 1966, die englische Übersetzung 1968), S. 85-86.

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duzenten dominierte Russland einen großen Schritt nach vorn bedeuten würde.
Unter der NEP erreichte die Lebensmittelproduktion 1925 zum ersten Mal wieder das Niveau von vor dem Ersten Weltkrieg, im Gegensatz zum Hunger 1921/22.
Die NEP führte aber auch zur berühmten »Scherenkrise« von 1923 und 1925, in der die Preise für in den Städten produzierte Industriewaren viel stärker stiegen als die Preise für Lebensmittel vom Land, wodurch die Bauern nichts kaufen konnten, was wiederum die Strategie einer kontrollierten »sozialistischen ursprünglichen Akkumulation« auf Kosten der Bauern untergrub, wie sie Jewgeni Preobraschenski, der Ökonom der linken Fraktion Trotzkis, propagierte.145 Diese Strategie war ohnehin chancenlos, da die Bauern sich, wie bereits oben angedeutet, nur mit Gewalt dazu bringen ließen, in dem Ausmaß mit der städtisch-industriellen Wirtschaft zu interagieren, das die Planer der Linken oder übrigens auch von Bucharin und den »rechten« Theoretikern des »Sozialismus im Schneckentempo« erwarteten.146 Mitte der 1920er Jahre war bereits klar, dass die Unterschiede zwischen der trotzkistischen Linken und der bucharinistischen Rechten eher qualitativer als quantitativer Natur waren und letztlich das richtige Tempo des »Auspumpens« der Bauern betrafen, denn auch Bucharin erkannte zunehmend, dass eine Industrialisierung auf der Grundlage eines der Landwirtschaft entnommenen Überschusses nötig war. Schon früh hatte Bucharin gegen die Industrialisierungspläne der Linken prophetisch geschrieben:
»… [Das Proletariat] hat sich zu viel zugemutet und musste einen riesigen Verwaltungsapparat schaffen. Zur Erfüllung der wirtschaftlichen Funktionen der Kleinproduzenten, Kleinbauern usw. sind viele Angestellte und Beamte nötig. Der Versuch, all diese kleinen Figuren durch staatliche Tschinowniki (siehe Fußnote) zu ersetzen – egal wie man sie nennt, faktisch sind sie staatliche Tschinowniki –, bringt einen derart riesigen Apparat hervor, dass die Kosten für seinen Unterhalt unvergleichlich viel höher sind als die unproduktiven Kosten, die aus dem anarchischen Zustand der Kleinproduktion entstehen; im Ergebnis wird die Entwicklung der Produktivkräfte durch diese ganze Form der Verwaltung, diesen ganzen Wirtschaftsapparat des proletarischen Staats nicht gefördert, sondern nur behindert. In Wirklichkeit läuft es in die genau entgegengesetzte Richtung wie geplant und muss daher mit eiserner Notwendigkeit zerbrochen werden… Wenn das Proletariat das nicht selbst tut, dann werden andere Kräfte es stürzen.«147
Ende 1927 hatten Stalin und sein »Zentrum« die trotzkistische Linke besiegt, marginalisiert und aus der Partei ausgeschlossen, mit Unterstützung von Bucharin und seiner Fraktion.148 Selbst dann war dem Großteil der Linken nicht klar, welche reale Gefahr dieses »Zentrum« bedeutete. Trotzki hatte vor seinem ersten Exil in Alma Ata (in Kasachstan) gesagt: »Vielleicht mit Stalin gegen Bucharin, niemals mit Bucharin gegen Stalin.« Auf dem Spiel stand letztlich die Bewahrung der »Smytschka«, des Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern, die letzte Säule von Lenins »doppelter Revolution«, die keinen konzertierten Versuch überleben sollte, die Bauern noch stärker auszuquetschen, um für die Industrialisierung zu bezahlen. Viele Figuren aus dem gesamten politischen Spektrum in der Partei stellten sich vor, dass die NEP Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte weitergehen würde.
Den Bruch in der Situation brachten Missernten in zwei aufeinanderfolgenden Jahren 1928 und

  1. 145  Diese Strategie wird durchbuchstabiert in Preobraschenskis Buch von 1926 The New Economics. Marot (a.a.O.) Auf S. 39 schreibt er: »1923 und 1925 haben Fabrikmanager und unternehmerische Bauern sich gegenseitig die guten Sachen zugeschoben, indem sie den Markt manipulierten.«
  2. 146  Ich setze »rechts« in Anführungszeichen, denn niemand war reaktionärer als der Führer des »Zentrums«, Stalin. Ich vernachlässige hier die wichtigen Debatten über die Außenpolitik, die mit den Fraktionskämpfen über die sowjeti- sche Ökonomie verflochten waren, beginnend mit dem Fehlschlag des abgebrochenen Aufstands in Deutschland 1923, der Niederlage im britischen Generalstreik 1926, und vor allem der desaströsen sowjetischen Intervention in China von 1925 bis 1927; die letzten beiden Ereignisse sind Stalin und Bucharin zuzurechnen.
  3. 147  Zitiert nach Stephen F. Cohen Bukharin and the Bolshevik Revolution (1973), S. 140. Tschinownikis waren ursprünglich zaristische Bürokraten, strikt nach sozialen Rang (auf Russisch »chin«) organisiert. Bucharin klagte die Linke an, sie würde einen »Dschinghis Khan«-Plan propagieren.
  4. 148  Für eine umfassende Darstellung des Fraktionskampf siehe Marot a.a.O., Kapitel 1 und 2. Sein Buch ragt aus den linken anti-stalinistischen Erzählungen heraus, durch sein verheerendes Porträt davon, wie die trotzkistische Linke (minus Trotzki selber, muss gesagt werden) nicht nur vor Stalins 1928 beginnender »Linkswende« kapitulierte, sondern sie positiv begrüßte.

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1929. Ende 1928 standen die Menschen in Moskau Schlange um Brot, und Stalin benutzte den Not- stand, um seinen berüchtigten »Krieg gegen die Kulaken« zu eröffnen (die reichste Schicht unter den Bauern, geschätzte 4-5 Prozent der Gesamtbauernschaft). Parteikader bekamen den Befehl, alle Lebensmittel zu konfiszieren, die sie auf dem Land finden konnten, und dazu »uralomongolische« (d. h. gewaltsame) Methoden anzuwenden, letztlich militärische Operationen, die weit über alle Konfiszierungen während des Bürgerkriegs hinausgingen. Die feinen Unterschiede zwischen den Bauern, die zuerst Lenin mit viel Mühe in seinem Buch von 1899 herausgearbeitet hatte und die politisch nie besonders gut funktioniert hatten, um z. B. die armen Bauern gegen die reicheren Schichten aufzuhetzen, verschwanden fast völlig im verzweifelten Versuch, die Quoten zu erfüllen. Zusätzlich wurden die Beschlagnahmungen von Lebensmitteln damit verbunden, die Bauern in Kol- lektivbetriebe (Sowchosen) oder Genossenschaften (Kolchosen) zu zwingen. Die Bauern leisteten gewaltsamen Widerstand. Nicht nur ermordeten sie Parteikader, wo sie nur konnten, sondern da sie keine Zukunft außer unbezahlter Lohnarbeit in den Kollektivbetrieben zu erwarten hatten, vernich- teten sie ihre eigenen Ernten und schlachteten etwa 40 Prozent aller Tiere (Pferde, Kühe, Schweine), oft, um nicht für Kulaken gehalten zu werden. In vielen Situationen spalteten die Bauern sich über- haupt nicht an den von einer fehlgeleiteten Theorie vorhergesagten »Klassengrenzen«, sondern es schlossen sich Bauern aus allen Sichten zur Selbstverteidigung zusammen. Bezeichnenderweise gingen viele Bauern während einer von Stalin im Frühjahr 1930 verordneten Verschnaufpause schnell wieder in die Kommunen zurück, aber das war nicht von Dauer. Bis 1932 starben schätzungsweise 10 Millionen Bauern in Zwangskollektivierungen und Umsiedlungen, und alle Kommunen, die 1918 98,5 Prozent aller ländlichen Gebiete Russland ausmachten, waren zerstört.

Wie vorher und auch später benutzte Stalin die sehr realen Missernten von 1927 und 1928 zur Errei- chung politischer Ziele, in diesem Fall zur Vernichtung der bucharinistischen »Rechten«. Die »Smytschka«, die Lenin auf absehbare Zeit als Grundlage des Regimes gesehen hatte, war beendet, und die »bacchanalische Planung« mit enormer Verschärfung des Arbeitstempos, Stücklohn und bewaffneten GPU-Aufsehern in den Fabriken konnte beginnen.

Abschließend sollte auch erwähnt werden, wie die trotzkistische »Linke« (allerdings ohne Trotzki, der schon im Exil war) auf Stalins »Linkswende« nach 1927 reagierte, bei der er »roh und brutal« einen Großteil des Programms der Linken übernahm. Allgemein hieß es: Stalin setzt unser Pro- gramm um; wir müssen ihn unterstützen. Dutzende, vielleicht sogar hunderte von Mitgliedern der Linken baten, wieder in die Partei aufgenommen zu werden, damit sie sich an den Kollektivie- rungen beteiligen konnten. Ein typischer Fall war Iwan Smirnow, ein ehemals überzeugter Trotz- kist, der im Oktober 1929 kapitulierte: »Ich kann nicht untätig bleiben! Ich muss bauen! Das Zentralkomitee baut für die Zukunft, so barbarisch und dumm seine Methoden sein mögen. Unsere ideologischen Differenzen sind relativ unwichtig verglichen mit dem Aufbau von großen neuen Industrien.«149

VI. Vom Fünf-Jahres-Plan zum endgültigen Zusammenbruch

Die Sowjetische Landwirtschaft erholte sich nie gänzlich von Stalins »Krieg gegen die Kulaken« zwischen 1929-1932, was zu einer dauerhaften Entwicklungsbremse für Ökonomie und Gesell- schaft als Ganzes wurde. Die Bauernschaft wurde so auf Dauer dem Regime entfremdet. Sowohl der riesige Verlust an Menschenleben, die Tötung von unzähligen Pferden auf dem Land und das fast völligen Fehlen an eisernen Pflugscharen lähmte die Aussaat über Jahre hinaus. Landwirtschaft- licher Anbau wurde fortan in über Lohnarbeit betriebenen kollektivierten Höfen (Sowchosen) und Kooperativen (Kolchosen) organisiert, dazu kamen kleine private Flurstücke, etwa ein Prozent der kultivierten Gesamtfläche, auf denen dennoch im Laufe der Zeit ein stattlicher Anteil der gesamten Nahrungsmittel, die an die Städte geliefert wurden, angebaut wurden. Die niedrige Produktivität des Sowchosen- und Kolchosen-Sektors in der sowjetischen Landwirtschaft spielte letztendlich eine

149 Zitiert in Moshe Lewin, a.a.O. S. 377. Smirnov wurde 1936 von Stalin hingerichtet. Siehe den Beitrag von Victor Serge: http://www.marxists.org/archive/serge/1936/08/smirnov.htm

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entscheidende Rolle im ultimativen Zusammenbruch des Systems 1991. Nach der Wiederaufbau- periode nach dem Zweiten Weltkrieg sank die Wachstumsrate in der Sowjetunion ab den 1950ern kontinuierlich von einem Fünf-Jahres-Plan zum nächsten. Die sogenannten Liberman-Reformen von 1965 waren ein Versuch, den Abwärtstrend durch bestimmte Dezentralisierungen im Planungs- prozess auf regionaler Ebene und bei der Betriebsführung umzukehren; sie scheiterten am Wider- stand der Bürokratie. Die Planer beugten sich über ihre Statistiken, um die Entwicklungshindernisse im System aufzuspüren und entdeckten lediglich, dass der Plan »selbst« und die Bürokratie, die ihn förderte, die innerstaatlichen Haupthindernisse (neben der fundamentalen Entfremdung der (Land)- Arbeiter und Bauern, dem Druck durch den kapitalistischen Weltmarkt und dem Embargo des Westens auf Schlüsseltechnologien) waren. In Wirklichkeit gab es keinen Plan;150 der Plan war eher so etwas wie ein Überbau, unter dem der Wettbewerb zwischen Betrieben – vor allem die Konkur- renz unter den Facharbeitern, um die knappen Ressourcen und vielleicht am wichtigsten um die Ersatzteile – genauso intensiv wütete wie in jeder offen kapitalistischen Ökonomie.151 Spätestens in den 1960ern war die Korruption endemisch und gleichzeitig essentiell für das Funktionieren der Realökonomie. In einigen osteuropäischen (Comecon-) Ländern wie Polen, wenn nicht sogar in der Sowjetunion selbst, war der US Dollar unerlässlich für Betriebsleiter, die für den zentralen Produktionsbereich Zubehörnachschub brauchten. Mit der Zeit wurde die Untergrund-Ökonomie mehr oder weniger zur einzigen Ökonomie, die überhaupt noch funktionierte.

Ein weiterer Klotz ab Bein war der außerordentlich wichtige militärische Sektor, der quasi wie ein unproduktives Sinkloch die besten technischen Arbeiter und Ressourcen verschlang. (Als Neben- effekt zur nationalen Verteidigung waren die Waffenverkäufe des Ostblocks eine wichtige Devisen- einnahmequelle.)

Die Lähmung des landwirtschaftlichen Sektors zwischen 1929-32, der, als das System 1991 zusam- menbrach, immer noch fast 40 Prozent der Arbeitskraft (in der sich noch dazu eine riesige verdeckte Arbeitslosigkeit verbarg) umfasste, blieb einer der Schlüsselfaktoren in der alles umfassenden Krise. Im Westen führte der weltweite Verfall der Agrarpreise zwischen 1873-1896, der mit der Integration der großen Getreide- und Fleischexportländer wie Kanada, Australien, Argentinien, der USA und auch Russland in den Weltmarkt und der Revolutionierung des Transportwesens durch Dampfschif- fe und Eisenbahn einherging, langfristig zu einer Reduktion der Lebenshaltungskosten, die sich um 1850 beim Arbeitslohn mit ca. 50 Prozent niederschlug. Diese so freigesetzte neue Kaufkraft der Arbeiter ermöglichte den Zugang zu Gebrauchsgütern (Radios, Haushaltsgeräten und später Autos), was fundamentaler Bestandteil jener Phase wirklicher Dominanz von Kapitalherrschaft ist und gleichzeitig die Reduktion der Arbeitskraft auf ihre abstrakten Tauschcharakter ausmacht. Im Westen gingen im Nachkriegs-Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg die Gesamtlohnkosten der produktiven Arbeitskraft im Sozialprodukt prozentual zurück (im Gegensatz zu der stets wach- senden Anzahl der Mittelklassekonsumenten), während der materielle Gehalt des Durchschnitts- arbeitslohn zunahm.

Diese im 19. Jahrhundert durch die Revolutionierung der Landwirtschaft und des Transportwesens weltweit entstandene Konsumtion durch die Arbeiterklasse fehlte nach dem Ersten Weltkrieg Sowjetrussland so schmerzlich. Deshalb stand nach dem Zweiten Weltkrieg die stetig ansteigende Nachfrage nach Konsumgütern der allgemein niedrigen Produktivität und höheren Lebensmittel- preisen gegenüber. Die einzige Alternative war, Konsumgüter aus dem Westen zu importieren – auf Kosten einer stetig steigenden Auslandsverschuldung, die zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1991 bei 51 Milliarden US Dollar lag.

  1. 150  Siehe Hillel Ticktin Political Economy of the USSR in: Critique No. 1, 1974, als Beispiel für eine Analyse, die viele Aspekte der späten Sowjetunion erfasst und auf deren Basis Ticktin ihren Untergang 15 Jahre bevor er dann Reali- tät wurde, vorhersagte.
  2. 151  Bezugnehmend auf eine Bemerkung Bordigas aus einem anderen Kontext: »Die Hölle des Kapitalismus ist der Betrieb, nicht die Tatsache, dass der Betrieb einen Boss hat.«

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VII. Fazit

»The multiplication of human powers is its own goal.«

(Marx, Pre-Capitalist Economic Formations)

Fast 25 Jahre später stellt sich auf globaler Ebene die Bauernfrage auch heute noch. Aus Platzgrün- den kann kein umfassender Überblick über ihre vielen zeitgenössischen Formen gegeben werden, von den Bauernaufständen in Indien bis zur Unfähigkeit des chinesischen Regimes, mehrere hundert Millionen quasi überflüssige Bauern sinnvoll zu integrieren, über Afrika, Lateinamerika, Südostasien und der Mittlere Osten. Heute noch mehr als vor 100 Jahren könnte die landwirt- schaftliche Leistungsfähigkeit der USA, von Kanada, Westeuropa, Australien und Argentinien zusammengenommen, wenn sie auf globaler Ebene für den Verbrauch/die Subsistenz produzieren würde, ein Vielfaches der gesamten Weltbevölkerung ernähren. Dieses Potential, blockiert durch die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, hängt wie ein Damoklesschwert weltweit über der Mehrheit der landwirtschaftlichen Subistenzproduzenten; seit Jahrzehnten scheitern daran die Verhandlungen über den Welthandel (wie kürzlich die sogenannte Doha Runde).

Die US-amerikanischen und kanadischen Agrarexporte zerstörten alles, was nach dem Inkrafttreten des NAFTA Freihandelsabkommens 1993152 von Mexikos bäuerlichen Ökonomie noch übrig war. Die »Festung Europa« (Europäische Union) ist heute wie »El Norte« (die USA) ein Magnet, der Millionen Menschen anzieht, einschließlich Millionen von Bauern der zerstörten ländlichen Ökono- mien in Lateinamerika, Afrika und im Mittleren Osten, die ihr Leben riskieren, um über das Mittel- meer zu kommen oder die Wüste von Sonora zu durchqueren, mit der Hoffnung, in der sogenannten entwickelten Welt in die Reihen des Subproletariats aufgenommen zu werden und dabei im Arbeits- losenheer für die Reservearmee des Kapitals bereitstehen; in dieser Funktion eignen sie sich in dem hoch geschürten nationalistischen/rassistischen Populismus der einheimischen Arbeiterklasse perfekt zum Sündenbock.

In dieser Situation kehrt aus der Erinnerung an die Überreste einer früheren scheinbaren ex-sowjeti- schen Alternative zum Kapitalismus die Marxsche jahrzehntelange Faszination für die russische Bauerngemeinschaft mit aller Dringlichkeit auf die Agenda zurück, weil die internationale Linke zunehmend wieder eine Verbindung herstellt zur Gesamtdimension des Marx’schen Projekts, das, zunächst eingeebnet durch Engels, für mehr als ein Jahrhundert im Durcheinander sowohl der Entwicklungsschritte der bürgerlichen Revolution, als auch der proletarischen Revolution über die zweite, dritte und vierte Internationalen hinweg verloren gegangen war.

Diese jüngste Revolution »baut keinen Sozialismus auf«, sondern ist eher »Geburtshelferin« einer höheren Form sozialer Organisation, die bereits vorhanden ist und als »determinierte Negation« einer sterbenden alten Ordnung innewohnt, »einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung«, wie es Marx im Manifest ausdrückt.153

Seit vier Jahrzehnten, seit den 1970ern, hat der Weltkapitalismus in sporadischen Wellen gegen die zunehmenden Anzeichen seiner Überalterung angekämpft; er kann die Menschheit nicht entwickeln und die Umweltapokalypse nicht vermeiden. In China und Indien sind in diesen Jahrzehnten wahr- scheinlich einige Millionen (von, erinnern wir uns, zusammengenommen 2,6 Milliarden) zu einer neuen wohlhabenden Mittelklasse aufgestiegen, die einen auf das Auto fokussierten, konsumbasier- ten Lebensstil nach westlichem Vorbild anstrebt. Nichtsdestotrotz zeigt die elementarste Fortschrei- bung der Ressourcen- und Umweltzerstörung (Verschmutzung, Zerstörung der Atmosphäre, kürzere Lebenserwartung), die ein derartiger »Lebensstil« mit sich bringt, den 7,5 Milliarden Menschen (9 Milliarden 2050) auf der Welt, was für ein immenser Trugschluss diese lineare Entwicklung für die Zukunft bedeutet.

  1. 152  Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA), das in Wahrheit hauptsächlich eine Abmachung ist, um in Mexiko die verbliebenen Handelsbarrieren für ungezügelte Importe und Investitionen abzubauen.
  2. 153  Siehe Insurgent Notes Nr. 1, »The Historical Moment Which Produced Us« und das darin ausgearbeitete Programm für einen größeren Überblick über die »ersten hundert Tage« der Implementierung des Kommunistischen Programms heute (http://insurgentnotes.com)

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Und diese Erkenntnis führt uns zu einer »Zukunftsvision aus der Vergangenheit«, zu der Marx’schen Vorstellung von der Wiederaneignung der Produktivkräfte der Welt, die auf einem sehr viel höheren Niveau die fundamentale »Spaltung« der Enteignung korrigiert, die vor mehr als 500 Jahren be- gann; dazu gehört auch die Überwindung der Trennung von Stadt und Land und eine gleichmäßi- gere Verteilung der Weltbevölkerung auf der Erdoberfläche (in den USA leben beispielsweise 99 Prozent der Bevölkerung im Moment auf einem Prozent des Landes.)

Die kommende Revolution wird nicht die Erarbeitung eines Fünf-Jahres-Plans, um den Kapitalis- mus in der Produktion von »Stahl, Zement und Strom« zu übertreffen, zum Ziel haben, um zu unse- rem einführenden Zitat von Trotzki zurückzukehren, (obwohl sie es tun kann, im Rahmen der Ver- wirklichung fundamentalerer Aufgaben.) Ihr Ziel ist vielmehr zunächst, weltweit einige Millionen Jobs abzubauen, von den Wall Street Quants [Administratoren von Quant-Hedgefonds, die auf Grundlage von computergestützten Investmentprozessen arbeiten und auf die an der US-Börse unter allen institutionellen Anlegergruppen der größte Teil des Aktienhandels entfällt, Anm. d. Ü-Setze- rin] bis zum Mautkassierer – Jobs, die nur dazu da sind, den Kapitalismus zu verwalten – wodurch diese Arbeitskraft für gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten freigesetzt und vereinigt wird mit eini- gen Milliarden, durch den Kapitalismus völlig marginalisierten, Menschen, um den Arbeitstag für alle radikal zu verkürzen.

Mit der Auflösung des Auto-Stahl-Öl-Gummi-Komplexes – immer noch im Zentrum der kapitalisti- schen Produktion und Konsumtion (ganz zu schweigen von der »symbolischen Bedeutung« für den Kapitalismus) – wird die gesellschaftliche Arbeitszeit, die in Nordamerika, Europa und Ostasien allein in der Pendelzeit und den Verkehrsstaus verlorengeht und zum Großteil ein Produkt der nach Immobilienprioritäten ausgearbeiteten urbanen, suburbanen und stadtnahen Entwicklungsentwürfen nach dem Zweiten Weltkrieg ist, durch die Gesellschaft zurückgewonnen; Ähnliches gilt für die riesigen Ausgaben für fossile Brennstoffe, die durch das bewusste Niederhalten von öffentlichen Massenverkehrsmitteln durch das Auto und die Ölindustrie notwendig wurden, wie eine kurze Tour durch die meisten amerikanischen Städte deutlich macht. Die gesamten sozialen, Material- und Energiekosten des urbanen, suburbanen und stadtnahen Raums, wie er im Moment existiert, abzu- bauen, wird bereits ein riesiger Schritt hin zu einer völligen De-Kommodifikation [Rücknahme des Zur-Ware-Werdens] des menschlichen Lebens sein. Oder wie es Marx vor 150 Jahren sagte:

»In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbei- ten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebenen Maßstab, zum Selbstzweck macht? wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist?« (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 387)

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