“Die Art, wie mittelst des Übergangs durch die Profitrate der Mehrwert in die Form des Profits verwandelt wird, ist jedoch nur die Weiterentwicklung der schon während des Produktionsprozesses vorgehenden Verkehrung von Subjekt und Objekt. … Aus diesem verkehrten Verhältnis entspringt notwendig schon im einfachen Produktionsverhältnis selbst die entsprechende verkehrte Vorstellung, … Es ist, wie man bei der Ricardoschen Schule studieren kann, ein ganz verkehrter Versuch, die Gesetze der Profitrate unmittelbar als Gesetze der Mehrwertsrate oder umgekehrt darstellen zu wollen.” (Kapital Bd. III, S. 55, MEW 25, Berlin 1956-75).
In den letzten vierzig Jahren ist es einfacher geworden, einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen zwischen den Werttheorien von Ricardo und Marx wie auch zwischen der Ricardoschen Politischen Ökonomie und Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie.
Etwas später, in den 1980ern, gab es ein kurzlebiges neoricardianisches Revival.Der “analytische Marxismus”, der „Marxismus ohne Verarschung” (das war ihr Kriegsruf) der Roehmers, Steedmans und Elsters unternahm wieder mal eine konzertierte Aktion, den Marxismus von Hegelscher Schlacke zu „befreien”. Roemer ging sogar so weit zu behaupten, der Marxismus könne mit neoklassischer Politischer Ökonomie angereichert werden, und er folgte Morishima in ausgedehnte Ausflüge in die Matrizenalgebra, um ein nichtexistentes „Transformationsproblem” zu lösen.
Glücklicherweise haben im letzten Jahrzehnt Leute wie Postone und Jappe (wie problematisch sie sonst auch sein mögen) wichtige Elemente desjenigen Marx restauriert, der den vorliegenden Artikel beseelt. Doch hat (soweit ich weiß) noch niemand herausgearbeitet, wie tief Hegels Begriff der „Verkehrung” den sogenannten „späten” Marx des Kapitals und der Theorien über den Mehrwert beeinflusst hat, und insbesondere, wie er dessen Kritik an dem wichtigsten Politökonomen, an David Ricardo (1770-1823) den Rahmen gibt.
Joan Robinson, eine weitere Figur aus einer früheren Generation, die sich nicht damit aufhielt, bei Das Kapital die Unterüberschrift zu lesen, und die infolgedessen ähnlich darauf brannte, aus Marx einen Ökonomen zu machen, fragte an einer Stelle, warum sie, nur um das Verhältnis zwischen Preis und Wert zu verstehen, soviel „Deutsche Metaphysik” lesen musste. Rosa Luxemburg gelang es leichter, den Entwicklungsbogen vom Tableau Economique der Physiokraten zu Ricardo und darüber hinaus zur späteren ricardianischen Schule als Blütezeit und Niedergang der politischen Ökonomie zu verstehen – wir sprechen hier von 1840! Oder, wie Marx es ausdrückt: „In der Tat hatten diese bürgerlichen Ökonomen den richtigen Instinkt, es sei sehr gefährlich, die brennende Frage nach dem Ursprung des Mehrwerts zu tief zu ergründen.” (Kapital, Bd. I, S. 539) Es ist atemberaubend zu sehen, wie das bürgerliche Denken auf diesem entscheidenden Gebiet bereits im Jahr 1820 seinen Höhepunkt erreicht hatte. Nach dem Untergang der ricardianischen Schule und dem Anfang der mathematisch orientierten neoklassischen Ökonomie ist die Abstraktion von den Ursprüngen noch weit tiefer begraben als bei Smith und Ricardo. In den 1960ern (von heute ganz zu schweigen) entstand so eine Ideologie, an die sich die über die (dann Vor-) Geschichte Forschenden der Zukunft so erinnern werden: Damals, das hatte mehr mit dem Nominalismus zu Ausgang des Mittelalters zu tun als mit irgendeiner zeitgenössischen Wirklichkeit.
Für Marx stellte also Ricardo den am weitesten fortgeschrittenen kapitalistischen Standpunkt dar. Die „sinnliche umwälzende Tätigkeit” in den Thesen zu Feuerbach bei Marx ist „die aktive Seite, die der Idealismus entwickelt hat”, und hier besonders der andere am weitesten fortgeschrittene kapitalistische Standpunkt, die Arbeit von G.F.W.Hegel (1770-1832).
Marx geht vor wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes. Wo Hegel bei der „sinnlichen Gewißheit” beginnt und herausfindet, daß diese das absolute Wissen als Voraussetzung hat, beginnt Marx mit der Ware, der „Zelle” der kapitalistischen Produktionsweise, und zeigt, daß diese die Bewegung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals als Voraussetzung hat. Marx beginnt den ersten Band des Kapital mit der immanenten Kritik an Ricardo, indem er Ricardos Sichtweise wiederholt, der Wert einer Ware sei bestimmt durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die für ihre Herstellung erforderlich war (Ricardo, Grundsätze der Volkswirtschaft und der Besteuerung). An dieser Stelle und weite Teile der ersten beiden Bände hindurch zwingt Marx „die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen, daß er ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.” Marx’ wirkliche Ansicht, daß nämlich der Wert einer Ware bestimmt ist durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die ihre REproduktion erfordert, wird im Kapital nur langsam entwickelt. Tatsächlich enthalten weite Teile der ersten beiden Bände „ricardianische” oder quasi-ricardianische Formulierungen (wie gesagt: als immanente Kritik): in den Brennpunkt rückt (im ersten Band) die Bestimmung des Werts einer Ware durch die zu ihrer Herstellung notwendige Zeit, dann die ausschließliche Konzentration auf den unmittelbaren Produktionsprozeß, die atomistische Sichtweise vom einzelnen kapitalistischen Unternehmen aus und die Annahme einer einfachen Reproduktion. „Es wurde in Buch I gezeigt, wie die Akkumulation für den einzelnen Kapitalisten verläuft” (Kapital II, S. 485). Zum zweiten Band: „Es handelte sich aber im ersten wie im zweiten Abschnitt immer nur um ein individuelles Kapital…” (Kapital II, S.353). Und wie Marx im dritten Band sagt, stößt der Kapitalismus im unmittelbaren Produktionsprozeß nicht an Grenzen, oder höchstens an sehr elastische, und sein wahres Problem besteht darin, das gesellschaftliche Gesamtkapital zu reproduzieren, das Marx gegen Ende des zweiten Bandes präsentiert und den ganzen dritten Band hindurch. Und wieder kritisiert Marx am Ende des dritten Bandes die Politische Ökonomie, weil „der Zusammenhang des Reproduktionsprozesses nicht begriffen wird, wie er sich darstellt, nicht vom Standpunkt des einzelnen Kapitals, sondern von dem des Gesamtkapitals aus betrachtet…” (Kapital III, S.852). Der entscheidende qualitative Sprung von Band I und dem Großteil des Bandes II einerseits zu den Schlußkapiteln von Band II und dem gesamten Dritten Band andererseits liegt im gesellschaftlichen Gesamtkapital, das weit mehr ist als nur die Summe der Einzelkapitale, als dem Rahmen für die Verteilung der durchschnittlichen Profitrate an die Einzelkapitalisten im Kontext der erweiterten Reproduktion. „Die einfache Reproduktion auf gleichbleibender Stufenleiter erscheint insoweit als eine Abstraktion, als einerseits auf kapitalistischer Basis Abwesenheit aller Akkumulation oder Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter eine befremdliche Annahme ist…” (Kapital II, S. 393-394).
Marx’ immanente Kritik an Ricardos Verkehrung gipfelt in den Schlußkapiteln von Band III, zuerst in der berühmten „ Trinitäts”-Passage (Bd. III, S. 838; dieses 48. Kapitel heißt “Die trinitarische Formel” [Trinität, dt. Dreieinigkeit; ironische Anspielung auf die christliche Religion mit Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist; Anm. d.Ü.]; gemeint sind Kapital/Zins, Grundrente und Lohnarbeit) über die „verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt”, und geht weiter mit der Diskussion des „die ganze politische Ökonomie durchziehenden absurden Dogmas, daß der Wert der Waren sich in letzter Instanz ganz zersetzt in Einkommen, in Arbeitslohn, Profit und Rente.” (S. 848-849). Schon Smith hatte den Wert in Rente, Profit und Löhne verkehrt (Theorien über den Mehrwert, Band 1, S. 353)
Und das vervollständigt wiederum den Sinn von Marx’ Formulierung, mit den mystifizierenden Kategorien des fixen und zirkulierenden Kapitals „ist der alles entscheidende Unterschied zwischen variablem und konstantem Kapital ausgelöscht, also das ganze Geheimnis der Mehrwertbildung und der kapitalistischen Produktion…” (Kapital II, S. 221).
Hegels Phänomenologie als geschlossenes System endet in einem Teufelskreis, bei dem das absolute Wissen zu sich selbst zurückkehrt als „sinnliche Gewißheit”, wohingegen Marx’ offenes System aus dem (einfach reproduktiven) Kreislauf des Kapitals, der sich durch den größten Teil der Bände I und II zieht, ausbricht in „die aus der Kreisform in die Spirale übergehende Reproduktion” (Kapital I, S. 656).
Ricardos Verkehrung, indem er Kapitalismus „bloß vom Standpunkt des Zirkulationsprozesses betrachtet” (Band II, S. 220) , hindert ihn daran, den Mehrwert als solchen zu erkennen, er sieht nur die verkehrten Formen, in denen er den Kapitalisten erscheint. Darüber hinaus folgt Ricardo Smith darin, das gesellschaftliche Gesamtprodukt in die drei Formen von Revenue aufzulösen, nämlich Profit/Zins, Rente und Löhne. Er behandelt das gesamte Kapital als variables und abstrahiert vom konstanten Kapital (Kapital I, S. 615-616 und Theorien über den Mehrwert, Band 2, S. 376). Smith und Ricardo gehen so weit, die Akkumulation mit der Konsumtion des gesamten kapitalisierten Teils des durch die produktiven Arbeiter produzierten Mehrprodukts gleichzusetzen (Kapital I, S. 642). Ricardo verwurstelt die Unterscheidung zwischen fixem Kapital (Arbeitsmitteln) und zirkulierendem Kapital (Gegenstände, die die ArbeiterInnen konsumieren), indem er das konstante Kapital mit den „Naturkräften” verwechselt (Kapital I, Fußnote auf S. 409). Daß Ricardo den Mehrwert mit dem Profit verwechselt, bedeutet, daß er nicht sieht, daß dieselbe Mehrwertrate sich in den verschiedensten Profitraten ausdrücken kann und verschiedene Mehrwertraten in derselben Profitrate (Kapital I, S. 546-547). Somit trifft Ricardos konfuser Begriff nur zu, wenn die Zusammensetzung des Kapitals, der Arbeitstag und durch Veränderungen der Löhne verursachte Veränderungen der Mehrwertsrate konstant gehalten werden (Kapital III, S. 74, S. 251). “Daß die bloße Möglichkeit [daß die Profitrate fallen könnte] Ricardo beunruhigt, zeigt gerade sein tiefes Verständnis der Bedingungen der kapitalistischen Produktion. … Es liegt in der Tat etwas Tieferes zugrunde, das er nur ahnt.” Dieses Tiefere bildet „innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Verstandes, vom Standpunkt der Produktion selbst, ihre Schranke, ihre Relativität, daß sie keine absolute, sondern nur eine historische, einer gewissen beschränkten Entwicklungsepoche der materiellen Produktionsbedingungen entsprechende Produktionsweise ist.”
(Kapital III, S. 269-270). Ricardos begrenzte Werttheorie hindert ihn auch daran, die absolute Grundrente zu sehen, weil er glaubt, die durchschnittlichen Preise der Waren müssten ihrem Wert entsprechen (Theorien über den Mehrwert, Band 2, S. 122). Aber genauso verheerend, und vielleicht noch schlimmer, ist die Tatsache, daß ein Fall der Profitrate die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses bedroht, und die „Ökonomen also, die wie Ricardo die kapitalistische Produktionsweise für die absolute halten, fühlen hier, daß diese Produktionsweise sich selbst eine Schranke schafft, und schieben daher diese Schranke nicht der Produktion zu, sondern der Natur (in der Lehre von der Rente).” (Kapital III, S. 252).
In dem Szenario, das Ricardo für das Ende des Kapitalismus entwirft, steigen aufgrund der kapitalistischen Entwicklung die Renten, und dadurch wird die Akkumulation abgewürgt. Weil kein neues fruchtbares Land hinzukommt, werden für den Anbau immer schlechtere Böden verwendet, wodurch die differentiellen Renten steigen und damit die Lebensmittelpreise, woraufhin die Arbeiter höhere Löhne fordern und so die Profite drücken.
„Die natürliche Tendenz des Profits ist demnach zu fallen; denn bei dem Fortschreiten der Gesellschaft und des Reichtums wird die erforderliche Zusatzmenge an Nahrungsmitteln durch das Opfer von immer mehr Arbeit erlangt. Diese Tendenz, dieses Gravitieren, sozusagen, der Profite, wird glücklicherweise in sich wiederholenden Zwischenräumen durch die Verbesserungen der Maschinerie, wie sie mit der Produktion von Bedarfsartikeln verbunden ist, gehemmt, sowie durch Entdeckungen in der Agrikulturwissenschaft, die uns in den Stand setzen, einen Teil der vorher erforderlichen Arbeitsmenge aufzugeben und infolgedessen den Preis des hauptsächlichsten Bedarfsartikels des Arbeiters zu erniedrigen. Doch ist das Steigen des Preises der Bedarfsartikel und des Arbeitslohnes begrenzt; denn sobald der Lohn, wie in dem früheren Beispiele 720 Pfund Sterling, der Gesamteinnahme des Landwirtes, gleichkommen sollte, müßte die Kapitalsanhäufung aufhören, weil dann kein Kapital noch irgendwelchen Profit abwerfen, und keine Zusatzarbeit verlangt werden kann, und infolgedessen wird die Bevölkerung ihren höchsten Punkt erreicht haben. Lange freilich vor dieser Periode wird die sehr niedrige Profitrate alle Kapitalsanhäufung zum Stillstand gebracht haben, und nahezu der Gesamtertrag des Landes wird nach Bezahlung der Arbeiter das Eigentum der Grundeigentümer und der Empfänger von Zehnten und Steuern sein.” (Ricardo, S. 110-11 [Ausgabe Jena 1923])
So sehen wir also, wie Ricardos verdinglichter Blick auf den Kapitalismus durch die Linsen des fixen und zirkulierenden Kapitals darin gipfelt, daß für ihn der Mehrwert verdeckt bleibt und hinter diesem die Arbeitskraft. Ricardo ist nicht Malthus. Für ihn wird der Kapitalismus nicht durch geometrisches Bevölkerungswachstum bei arithmetrischer Zunahme der Subsistenzmittel stranguliert. Was er aber mit Malthus teilt, ist ein linearer Blick auf die materiellen Verbesserungen im Verhältnis des Menschen zur Natur, und deswegen stellt er sich als absolute Grenze der kapitalistischen Akkumulation eine natürliche Grenze vor — den Mangel an fruchtbarem Land. Marx verwandte sehr viel Arbeit darauf, die Existenz einer absoluten Grundrente zu beweisen (Grundrente selbst für die Eigentümer des schlechtesten Bodens), um zu zeigen, daß die Grenze, die Ricardo nur im endlichen Vorhandensein fruchtbarer Böden sehen konnte, aus den kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen (in diesem Fall bezüglich Grund und Boden) bestand.
Soweit haben wir jetzt Marx’ Kritik an Ricardo umrissen und die immanenten Grenzen von Ricardos verkehrtem Blick auf die Welt aufgezeigt. Aber die bedeutendere Frage bleibt: Was war es denn, das Ricardo verkehrte, indem er den Kapitalismus vom Standpunkt der Zirkulation aus betrachtete?
Um das in seiner Gänze zu betrachten, müssen wir uns auf eine andere theoretische Ebene begeben, die Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie mit seinem Frühwerk verbindet und, noch weiter zurück, mit der deutschen Kritischen Philosophie:
„(Ricardo) … will die Produktion der Produktion halber, und dies ist recht … Produktion um der Produktion halber (heißt) nichts als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck” (Theorien über den Mehrwert, Band 2, S. 111)
Oder, wie Marx es in den „Grundrissen” formuliert, „die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint…” (Grundrisse, S. 244)
Marx wies die „Verewigung” des Warentauschs durch die politische Ökonomie zurück, indem er solche Verhältnisse als Übergang zwischen Feudalismus und Sozialismus ansah. Er kritisierte Hegel, weil dieser nie über die „Negation” hinausgegangen war (Objekte nur als Objekte von Gedanken), und übernahm Feuerbachs Idee des “auf sich selbst ruhende[n] und positiv auf sich selbst begründete[n] Positive[n]” (Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844) als der wahren Aufhebung der Philosophie und der abstrakten Spekulation. Für Marx war das wirkliche „auf sich selbst ruhende… Positive” die „sinnliche umwälzende Tätigkeit”: „[Ein Tier] produziert nur sich selbst, während der Mensch die ganze Natur reproduziert” (Manuskripte von 1844). Für Marx gab es keinen „positiven” praktischen Standpunkt innerhalb des Kapitalismus außer der entstehenden „Klasse für sich”, die über die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse hinausdrängt. Weder der individuelle Kapitalist (wie ihn die atomistische Annahme der politischen Ökonomie haben will) noch der Gesamtkapitalist, noch die Arbeiterklasse „an sich” als lohnarbeitendes Proletariat, konnten für die Gesellschaft als ganze handeln, also auf wahrhaft universelle Weise. Nur das Proletariat, indem es „sich selbst als Proletariat auflöst”, die „Klasse mit radikalen Ketten”, deren Emanzipation die Voraussetzung aller Emanzipation war, errang ein wahrhaft „auf sich selbst ruhendes … Positives”, indem sie sich als die praktische Aufhebung der bestehenden Ordnung setzte und der „Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Ziel in sich” zustimmte, sobald die Arbeitskraft sich aus ihrem Status einer Ware befreit hätte.
Die vor dreißig Jahren erfolgte Veröffentlichung von Marx’ mathematischen Manuskripten warf ein Licht auf diese Problematik
[zuerst veröffentlicht 1968 in Moskau in Form einer zweisprachigen deutsch-russischen Ausgabe, später in Englisch und Französisch, deutsche Erstveröffentlichung 1974].
Sie zeigen, daß Marx bis zu seinem Tod ein mathematisches Programm verfolgte, das aus Hegels Logik stammte, und zwar nicht aus den Abschnitten der Logik, die Persönlichkeiten wie Lenin, James oder Dunayevskaya inspirierten, sondern genau aus den 200 Seiten über die Mathematik des 18. Jahrhunderts, in welchen Hegel eine Kritik der „schlechten Unendlichkeit” entwickelte, der Idee der Unendlichkeit als einer endlosen Wiederholung, die nie ihr Ziel erreicht, einer linearen Unendlichkeit am Ende von Raum und Zeit. Marx richtete sein Augenmerk nicht nur auf Hegels Logik, sondern er studierte die ganzen Mathematiker des 18. Jahrhunderts, die Hegel studiert hatte, während er die mathematische Revolution seiner eigenen Zeit in den Arbeiten von Riemann, Cantor und Klein nicht wahrnahm. Vermutlich war Marx’ eigenes Experimentieren mit der Infinitesimalrechnung ein vergeblicher Versuch, eine „wahrhafte Unendlichkeit” zu formalisieren, mit aller Wahrscheinlichkeit ging es ihm dabei auch darum, das Reproduktionsschema am Ende von Kapital II zu lösen sowie das allgemeinere Problem der erweiterten Reproduktion, das er unvollständig hinterließ. Aber auch ohne mathematische Formalisierung hatte er die praktische Realisierung der „wahrhaften Unendlichkeit” bereits formuliert.
Kapital ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Es ist die zur Ware gewordene Verkehrung der Arbeitskraft, des tatsächlichen Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält, des wahren praktischen historischen Ortes von Hegels verdinglichtem Geist. Die Arbeitskraft als der Gesamtarbeiter in einem kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnis ist in verkehrter, zerstreuter Form die Gesamtheit der Kräfte der Menschheit . Sie ist, durch die unbewußte, verkehrte Form der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, dieses historische „wahrhaft Unendliche”. Weil Hegel nicht über die Selbstbewegung des Denkens hinaus zur praktischen Selbstentwicklung der Menschheit gelangen konnte, beließ er dieses „wahrhaft Unendliche” im Reich der Kunst, der Religion und Philosophie. Seine Idee der „universellen Arbeit” (d.h. der schöpferischen Tätigkeit) war auf den preußischen Monarchen beschränkt. Marx’ „sinnliche umwälzende Tätigkeit” (aus den Thesen zu Feuerbach) verschiebt diese schöpferische Tätigkeit hin zur Reproduktion der gesamten Natur durch den Menschen, zu dessen Fähigkeit, sein Verhältnis (zu sich selbst) in der und durch die Natur auf intensivere Ebenen zu bewegen.
Viele kennen Marx’ geistreiche Bemerkung, daß es die kommunistische Gesellschaft dem Menschen ermöglicht, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.” (Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33) Aber die theoretische Bedeutung, die hinter ihr steckt, wird oft nicht erfaßt. Gewöhnlich versteht man sie als ein Bild für die Überwindung der Arbeitsteilung, aber es steckt mehr darin. Sie ist der praktische Ausdruck dafür, was hier mit „wahrhafte Unendlichkeit” gemeint ist. Es ist der konkrete Ausdruck der Überwindung der Reduktion von Menschen auf ihre fixierte Lebensaktivität in der kapitalistischen Arbeitsteilung.
Die „volle Entwicklung der Tätigkeit selbst” im obigen Grundrisse-Zitat ist die „praktische” Verwirklichung der wahrhaften Unendlichkeit. Das bedeutet, daß jede spezifische Tätigkeit immer der „äußerliche” Ausdruck einer tiefer liegenden allgemeinen Tätigkeit ist, die eine erweiterte Version ihrer selbst als ihr eigenes Ziel hat, gerade so, wie Marx es in seiner Kritik an Ricardo von der „Produktion um der Produktion halber” sagt. Unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen wäre die unmittelbare produktive Tätigkeit frei assoziierter Individuen in Wirklichkeit immer eine (Re-)Produktion ihrer selbst mit dem Ziel der Vervielfältigung der menschlichen Kräfte einschließlich der Entwicklung neuer Kräfte. Jede Aktivität bezieht sich zurück auf den Akteur. In diesem Sinne ist die „wahrhafte Unendlichkeit” die praktische Gegenwart des Allgemeinen in jeder spezifischen Tätigkeit im Hier und Jetzt. Für die Aufklärung, einschließlich solcher ihrer Ableger wie Ricardo, war ein Gegenstand lediglich ein Ding. Für Hegel, und vor allem für Marx, ist ein Gegenstand eine Beziehung (zu sich selbst), die durch ein Ding vermittelt ist:
“In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist?” (Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 42, S. 395/96)