Die Medien berichteten am Sonntag, dem 29. Februar, aus Südkalifornien
fast nur über die Oscar-Verleihung, aber am selben Tag stimmten dort
die Beschäftigten im Einzelhandel zu 86 Prozent für den Abbruch ihres seit
fünf Monaten laufenden Streiks und damit für die Annahme eines
dreijährigen Tarifvertrags, der einen Durchbruch für die Arbeitgeber
bedeutet. Die Supermärkte hatten durch den Streik zwar Umsatzeinbußen
in Höhe von 2,5 Mrd. Dollar, aber sie haben einen Präzedenzfall geschaffen
– nicht nur im Einzelhandel.
Im Oktober 2003 hatten 97 Prozent der Mitglieder der Gewerkschaft UFCW
(United Food and Commercial Workers) in Süd- und Zentralkalifornien für
einen Streik bei der Supermarktkette Von’s, einer Safeway-Tochter,
gestimmt. Hauptsächlich ging es um die bisher komplett von der Firma
gezahlten Krankenkassenbeiträge der Beschäftigten. Die
Krankenversicherung stellt in den USA oft einen der wichtigsten
Lohnbestandteile dar. Viele UFCW-Mitglieder in Südkalifornien verdienen
weniger als 12 Dollar die Stunde, viele kommen nur auf eine
24-Stunden-Woche, und viele machen den Job hauptsächlich wegen der
Krankenversicherung. Von’s wollte durchsetzen, dass die ArbeiterInnen
die Hälfte dieser Beiträge selbst bezahlen und zudem die Einstiegslöhne
senken. Das sei notwendig wegen der Konkurrenz durch den
Einzelhandelsriesen Wal-mart, der die Eröffnung von vierzig weiteren
Filialen in Südkalifornien plant (Wal-mart ist berüchtigt für
Niedriglöhne und keine Sozialversicherung). Innerhalb weniger Stunden
wurden bei Albertson’s und bei Ralphs, zwei weiteren Ketten, die
ebenfalls zu US-weiten Einzelhandelskonzernen gehören und bei denen
ebenfalls Tarifverhandlungen liefen, die Beschäftigten ausgesperrt.
Seither befanden sich 70 000 UFCW-Mitglieder in der Region im Streik.
Die ArbeiterInnen gingen mit großer Begeisterung in den Streik und
erhielten erstaunliche Unterstützung in der Öffentlichkeit, sogar über
die besonders umsatzstarken Weihnachtsfeiertage blieben die bestreikten
Supermärkte weitgehend leer. Gleichzeitig streikten, ebenfalls wegen
der Krankenversicherung, die Beschäftigten im Öffentlichen
Personennahverkehr von Los Angeles. Das löste eine seit Jahrzehnten
nicht mehr erlebte Atmosphäre von »Streikwelle« aus. Die
US-Westküsten-Hafenarbeitergewerkschaft ILWU legte mit einer
Solidaritätsversammlung eine Schicht lang den Hafen von Los Angeles und
kurz darauf auch die nahegelegene, für die US-Marine arbeitende Werft
in San Pedro lahm. Außerdem spendete sie 200 000 Dollar an die
Ralphs-Streikkasse.
Allen war klar, dass der Ausgang des Streiks Signalcharakter für viele
andere Gewerkschaften und ArbeiterInnen in der Region und in den ganzen
USA haben würde (immer mehr Konflikte in den Betrieben drehen sich
genau um die Frage, wer für die Krankenversicherung aufkommen muss). Doch
trotz aller Unterstützung durch die Arbeiterklasse folgten die
Gewerkschaften ihren engstirnigen legalistischen Strategien, die in den
vergangenen 25 Jahren in so viele Niederlagen geführt haben: legale,
oft durch arbeitsgerichtliche Auflagen eingeschränkte Streikposten, blöde
Sekundärboykotte, keine Gewalt gegen Streikbrecher und allgemein bloß
nichts unternehmen, was den Laden wirklich dicht machen könnte. Am 31.
Oktober 2003 zogen sie als »vertrauensbildende Maßnahme« die
Streikposten bei Ralphs ab und konzentrierten sie auf Von’s. Sofort
verkündeten die drei Unternehmen, sie würden die durch den Streik
entstandenen Gewinne und Verluste gemeinsam tragen. Die Gewerkschaft
forderte die Leute sogar zum Einkaufen bei Ralphs auf, wo ihre eigenen
Mitglieder ausgesperrt waren. Obwohl alle Ketten zu US-weiten Konzernen
gehören und insgesamt 30 Mrd. Dollar im Jahr umsetzen, schreckten die
Gewerkschaften vor jeglicher überregionalen Strategie zurück, sondern
schickten nur ein paar »Informations-Streikposten« zu Filialen in
Nordkalifornien und anderswo.
Am 24. November weitete die UFCW den Streik auf zehn Zentrallager in
Südkalifornien aus, von denen aus die Supermärkte beliefert werden, und
die Teamsters (LKW-Fahrer-Gewerkschaft) sagten zu, dass ihre 7000
Mitglieder, die diese Märkte belieferten, die Streikposten respektieren
würden. Aber die UFCW tat nichts, um die Tausende von
Streikbrecher-LKWs zu stoppen, die die Läden statt der Teamsters belieferten, und am 19.
Dezember wollte sie die Streikposten abziehen. Am 22. Dezember
weigerten sich UFCW-Mitglieder vor dem Von’s-Zentrallager in El Monte, ihren
Streikposten abzubrechen, und blieben dort. Mitte Januar gab es wieder
Streikposten bei einigen Ralphs-Filialen, aber die Gewerkschaft hatte
das Streikgeld von 240 auf 100 Dollar die Woche gekürzt.
Mitte Dezember kamen John Sweeney und Rich Trumpka, die beiden Chefs
der »neuen« AFL-CIO, zu einem Treffen mit den Vorsitzenden der 50
UFCW-Orts- und Betriebsgruppen nach Los Angeles. Sie warfen für den Streikausgang
die Reputation der AFL-CIO in die Waagschale (seit Sweeneys Amtsantritt
1995 ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den USA von 14 auf
9 Prozent gefallen). Aber offensichtlich hatten sie unterschätzt, dass
die drei Ketten bereit und in der Lage waren, Millionen von Dollar
einzusetzen, um die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Die Konzerne
hatten angekündigt, sie hätten ein ganzes Jahr Zeit für die
Zerschlagung der UFCW.
Die Gewerkschaften haben die relativ jungen und unerfahrenen
ArbeiterInnen erfolgreich unter Kontrolle gehalten. Es gab keine
Massenversammlungen, wo die Streikstrategie diskutiert worden wäre, und
die Mitglieder hatten allgemein das Gefühl, keinen Einfluss darauf zu
haben, wie sich der Streik entwickelte. Bei Ralphs hielten
Streikbrecher der berüchtigten Firma Personnel Support System, Inc. den Betrieb am
Laufen, die Schlägertypen als »Ersatzarbeiter« für genau solche
Situationen anbietet. Aber die UFCW war nicht bereit, gegen
Streikbrecher die Art Taktiken einzusetzen, aus denen die
Gewerkschaften einmal entstanden sind.
Es wurde eine hastige Abstimmung über einen Tarifvertrag mit 16 Seiten
Kleingedrucktem durchgedrückt. Die UFCW und die AFL-CIO sprechen von
einem Sieg, weil sie für die jetzigen Beschäftigten für zwei Jahre die
Krankenversicherung sichergestellt hätten. In Wirklichkeit führt der
neue Tarifvertrag ein Zwei-Klassen-System ein. Die jetzigen
Beschäftigten bekommen in den ersten zwei Jahren der Vertragslaufzeit
keine Lohnerhöhungen, sondern nur eine Einmalzahlung (200-300 Dollar
für Vollzeitkräfte, für Teilzeitkräfte entsprechend weniger). Ab dem
dritten Jahr müssen sie monatliche Beiträge zur Familien-Krankenversicherung
zahlen. Beiträgserhöhungen müssen sie ebenfalls selbst zahlen.
Neueingestellte bekommen niedrigere Löhne (7,55 bis 11,05 Dollar statt
12 Dollar wie für die »Alten«) und nur eingeschränkte
Krankenversicherungsleistungen (Leistungen erstmals nach einem Jahr,
für Familienangehörige erst nach zweieinhalb Jahren, keine Leistungen nach
Erreichen des Rentenalters). Dieser Zwei-Klassen-Tarif lädt also dazu
ein, ältere Beschäftigte loszuwerden. Und schließlich dürfen die
Unternehmer laut Vertrag innerhalb von 36 Stunden nach
Vertragsunterzeichnung bis zu 630 UFCW-Mitglieder wegen »Fehlverhalten«
als Streikposten entlassen.
Der entscheidende Grund für die Niederlage war weder die
Kurzsichtigkeit der gewerkschaftlichen Strategie noch ihr Ansatz von oben herab,
sondern die Tatsache, dass die UFCW-Basis dieser Strategie nichts
entgegensetzte. Letztlich ging es in diesem Streik darum, dass die
Konzerne die veraltete »private Sozialdemokratie« für die Minderheit
amerikanischer ArbeiterInnen mit gewerkschaftlich-tarifvertraglich
abgesicherten und nicht mehr finanzierbaren Krankenversicherungen
schleifen wollen. Diese Kapitaloffensive lässt sich nur mit einer
Klassenoffensive beantworten, die die umfassende Krankenversicherung zu
einem politischen Thema macht, das nicht nur auf isolierte Gruppen von
ArbeiterInnen in verlorenen lokalen Kämpfen beschränkt bleibt. Und
einen solchen Kampf kann man weder von der UFCW noch von der AFL-CIO, und
erst recht nicht von der Demokratischen Partei erwarten.