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Buchbesprechung: Franklin Rosemont: Joe Hill. The IWW and the Making of a Revolutionary Workingclass Counterculture.
Chicago, Charles H. Kerr, 2003.

Loren Goldner

Ein schönes Buch ist »Joe Hill« von Franklin Rosemont in vielerlei Hinsicht. Gerade in einer Zeit wie heute, da im Nahen Osten Krieg geführt wird und die »Politik« in den USA auf eine rechte und eine extrem rechte Partei beschränkt scheint, versetzt mich das Buch in eine Stimmung, daß ich aus der Tür rennen könnte und anfangen zu organisieren. Ich komme mir vor wie ein Griesgram, wenn ich es ernsthaft kritisiere. Vor allem ist das Buch wichtig für eine neue Generation von AktivistInnen, die versucht, sich in dem von der bürokratischen, auf den Staat orientierten «Linken« des 20. Jahrhunderts hinterlassenen Schutt einen Standort zu verschaffen.

Um dem Leser eine schwache Ahnung von der Bandbreite des Buchs zu geben: Rosemont schafft es, Joe Hill und die IWW (Industrial Workers of the World – auch: Wobblies) zusammen mit Surrealisten, Jazzmusikern und Mystikern in ein und dieselbe Erzählung zu kriegen, und läßt diese Übung mühelos erscheinen. Er zieht die kargen Spuren von Hills Wanderleben zusammen und verknüpft sie, und die IWW, mit einem Großteil der radikalen Kultur und Politik des 20. Jahrhunderts. (Das Buch ist außerdem großzügig illustriert.) Schon 1959 hatte Rosemont die IWW entdeckt, und es war ihm gelungen, einige der »Old-Timer« zu treffen, was ihn zu mehr inspirierte. Seine Übersicht über andere Bücher zu den IWW schließt er, eine »wirklich gute, wahrhaft umfassende Geschichte der IWW muß noch geschrieben werden«. (Das wird erschwert durch das Verbrechen der US-Regierung, die 1917 die Unterlagen der IWW beschlagnahmte und vernichtete.) Die IWW hatten ein lebendiges Verhältnis zu Marx, mit ArbeiterInnen-Selbstschulungen  und Arbeitsgruppen zum Kapital. Anders als viele der späteren Linken »lasen und studierten die Wobblies Marx tatsächlich«. Während spätere linke Avantgarden ihre Veröffentlichungen hauptsächlich für die Arbeiter produzierten, waren die der IWW »von und durch wie auch für«. Die meisten Wobblies lehnten das Etikett »syndikalistisch« ab, den meisten echten Syndikalisten waren sie zu marxistisch und anderen (und späteren) Strömungen des Marxismus zu anarchistisch. Die IWW waren »wahrhaft informell« und »sehr offen«. »Aufgrund des hohen Stellenwerts, den sie der Spontaneität, der Poesie und dem Humor jederzeit einräumten, waren die IWW in der Geschichte der Arbeiterbewegung einzigartig.« Sie wußten »zuviel über die Arbeit, um zu ›Arbeitsfetischisten‹ zu werden«.

»Joe Hill ist wahrscheinlich der bekannteste Hobo [ohne Fahrkarte in Frachtzügen reisender Wanderarbeiter] der US-Geschichte«, aber »das biographische Material über ihn ist entmutigend knapp«. Hill war bescheiden und hinterließ nicht viele Spuren. Rosemont gibt eine kurze Biographie »aus der Handvoll harter Fakten, einigen hohen Wahrscheinlichkeiten und einem heruntergekommenen Koffer mit auf hohem Niveau Geratenem und plausiblen Vermutungen.« Hill, schreibt Rosemont, »war zu Lebzeiten vor allem für seine Gedichte bekannt und für seine Lieder«. Die IWW-Presse war voll mit Gedichten ihrer Mitglieder. Die Wobblies sangen auf ihren Versammlungen, beim Streik und in ihren Treffpunkten. Wie viele andere Wobblies ging Hill während der dortigen Revolution nach Mexiko. Dann wurde er im Januar 1914 auf dem Weg durch Salt Lake City beschuldigt, einen örtlichen Krämer umgebracht zu haben, verhaftet, in einem politischen Prozeß aufgrund gefälschter Beweise verurteilt  und trotz einer internationalen Kampagne zu seiner Verteidigung im November 1915 hingerichtet.

Hill war ein Künstler: ein Dichter, Komponist, Liederschreiber, Maler und Kartoonzeichner. Um es nochmal zu sagen: Man kann die Rolle der Poesie und des Singens im Alltag und in den Kämpfen der IWW, die Streikfestivals wie im Mai 1968 in Frankreich vorwegnahmen, nicht überbetonen; gerade angesichts ihres Gegenteils, der trostlosen Atmosphäre in der Politik eines Großteils der organisierten Linken in den USA seit dem Ersten Weltkrieg.

Die Mythen über Joe Hill, seien es positive oder negative, greift Rosemont an. »Hill größer machen als er war« käme einem entfremdeten »Führer«-Kult zugute, und das bei einer Organisation, die ihren Stolz auf die anti-demagogische Parole »Wir sind alle Anführer!« gründete.

In der Rassenfrage schwammen die IWW für ihre Zeit radikal gegen den Strom der dominanten reaktionären Kultur. Keine Frage, im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, auf der Höhe von Jim Crow [Gesetze zur Rassentrennung in den USA], als der »progressive« Präsident Woodrow Wilson ein unverfrorener Anhänger der Vorherrschaft der Weißen war, gingen die Wobblies beim Angriff auf das Weißen-Problem der USA weiter als jede andere Organisation der Arbeiterklasse vor ihnen oder seither. Zur selben Zeit, als die American Federation of Labor offen die antiasiatische Gesetzgebung unterstützte und viele der ihr angeschlossenen Gewerkschaften in ihren Statuten ausdrücklich die Mitgliedschaft Nicht-Weißer ausschlossen, hießen die IWW LohnarbeiterInnen jeder Hautfarbe und Nationalität in ihren Reihen willkommen.

Rosemont, von dem übrigens auch der brillante, im Internet erhältliche Text  »Karl Marx and the Iroquois« stammt, zeigt, daß die IWW in ihrem Verhältnis zu und ihrer Haltung gegenüber Native Americans der Sensibilität von Marx` damals noch unbekannten und bis heute kaum wahrgenommenen Ethnologischen Exzerptheften näher standen als alle sozialdemokratischen, stalinistischen oder trotzkistischen Strömungen. Er verweist auf direkte Zeugnisse von Teilnehmern an den »hochgradig egalitären und antirassistischen« Wobbly-Hobo-Lagern. Bei der Frauenfrage waren die Wobblies ihrer Zeit ähnlich weit voraus, viele Frauen standen bei ihnen in den ersten Reihen. Sie sprachen unbekümmert über die Prostitution als direktes Produkt der Verelendung der Arbeiterklasse.

Über das Verhältnis zwischen den Wobblies und der KP der USA (oder der »Komischen« Partei, wie sie bei den Wobblies hieß) enthält Rosemonts Buch großartiges Material. Offensichtlich begrüßten die IWW die russische Revolution, 1921 standen sie dem in Rußland sichtlich Raum greifenden Etatismus schon skeptisch gegenüber. Doch interessanter noch ist seine Darstellung der »zahllosen Gewalttaten seitens der Stalinisten gegen radikalere Elemente in der Arbeiterbewegung in den USA«, die nach Rosemont »in Büchern über den Radikalismus in den USA so gut wie nie erwähnt werden«.

Ihre poetische Dimension ließ den Einfluß der IWW auf die modernistische Avantgarde ausstrahlen, wie bei Big Bill Haywoods Verbindungen nach Greenwich Village oder den Künstlern aus dem Village, die 1913 während des berühmten Streiks in Paterson, New Jersey, an der künstlerischen Ausstattung der Solidaritäts-Show im New Yorker Madison Square Garden mitarbeiteten.

Aber was sind dann meine griesgrämigen und zweitrangigen Kritikpunkte an Rosemonts Buch? Hauptsächlich kommen sie daher, wie er isolierte Fakten über Joe Hill nimmt und sie dazu benutzt, um fünfzehn oder zwanzig Seiten lang über die IWW zu schreiben. Hill war während der mexikanischen Revolution in Mexiko, Rosemont schreibt seitenweise über die mexikanische Revolution. »Und welche Rolle spielte Joe Hill dabei? Wie fast jedes Mal in Joe Hills Biographie sticht die Abwesenheit genauen Materials frustrierend ins Auge.« Diese Methode wird ein Dutzend mal angewandt. Hill ging 1911 nach Hawaii. Es ist nichts darüber bekannt, was er dort tat, aber nach jenem Jahr legten die IWW dort richtig los.  Und so geht es die ganze Zeit, über Hills Haltung gegenüber Frauen oder Native Americans oder seine Begabung für das Kochen chinesischer Speisen.

Natürlich rekonstruiert Rosemont wie ein Archäologe eine komplette historische Ära aus einigen Tonscherben, und oft klappt das auch. Nur stellt er nie die grundlegende Frage zu den IWW: WAS LIEF FALSCH? Ähnlich wie andere von ihm zitierte Autoren, die brillant über kaum bekannte oder vergessene radikale Episoden der Geschichte schrieben wie CLR James oder wie Peter Linebaugh und Markus Rediker mit ihrem »The Many-Headed Hydra«, hat Rosemont keinerlei Erklärung für die Niederlage. Sicher haben wir in diesen trostlosen Zeiten kaum das Bedürfnis, uns in der Niederlage zu ergehen. Aber wenn wir für unsere Gegenwart wieder eine Vorstellung von den IWW von 1905-1924 erhalten wollen – genauso wie Rosemont finde ich ein solches Projekt notwendig und dringend –, dann müssen wir ein besseres Verständnis davon gewinnen, warum sie verdrängt wurden. Seltsamerweise findet sich in den 640 Seiten des Buchs, das gestopft voll ist mit Fakten über Hill und die IWW, nicht viel an historischer Analyse. Wenn z.B. die Trotzkisten sagen  (und das tun sie), die IWW seien durch die KP verdrängt worden, weil den Wobblies die kohärente politische Perspektive fehlte, die die junge KP von Lenin und Trotzki bezogen hatte — und  sie liegen damit falsch, warum wurden die IWW denn dann verdrängt? Warum war die KP die Massenbewegung der 1930er und nicht die IWW? Sicher spielte Repression eine wichtige Rolle, aber was ist mit dem Übergang »von der formellen zur reellen Subsumption der Arbeit unter das Kapital«? Den Auswirkungen des Taylorismus? Der Mechanisierung der Landwirtschaft , die so viele der Saisonjobs vernichtete, die die Wobblies auf ihren Hoborundfahrten annahmen? Der Verbreitung des Fließbands? Es wirkt wie Nörgelei, wenn ich von einem Werk, das sich so reichhaltig mit Kultur befaßt, verlange, es solle etwas zur »Ökonomie« sagen, zum technologischen Wandel, den riesigen Veränderungen des kapitalistischen  Staates zwischen 1890 und 1945, oder zum mit den 1930ern beginnenden Triumph der »korporativistischen« Haltung gegenüber den Gewerkschaften unter großen Kapitalisten, oder schließlich zu den Auswirkungen der Massenkultur (Radio, Kino und später das Fernsehen) und der Bildung der Massen auf populäre Lieder und Poesie, und wie all das wiederum den Untergang der IWW beeinflusste. Das meiste davon findet nicht einmal Erwähnung. Rosemont besteht darauf, daß sich die IWW 1919 noch nicht im Niedergang befanden, sondern erst 1924, aber er gibt keine Begründung für ihren Untergang. Überall in den USA wurden in der Depression von 1920 (zusammen mit der Roten-Hetze) Gewerkschaften ausgelöscht, welche Auswirkungen hatte das auf die Wobblies? Rosemont erwähnt das nicht. Brillant unterstreicht er die Bedeutung von Liedern und Poesie für die Bewegung. Aber er schreibt von einem Standpunkt innerhalb von etwas, das heute eine Subkultur darstellt, verkleidet es als Klassenkultur und übertreibt bei weitem das Ausmaß, zu dem heute in den USA Arbeiter (und vor allem junge Arbeiter) sich an Hill oder die IWW auch nur erinnern. Natürlich kann Rosemont nicht alles leisten. Aber er schreibt nicht für die Erbauung von Antiquaren, sondern vermutlich, um die Gegenwart und die Zukunft zu inspirieren. Etwas historisches Verständnis der »Besonderheit« der IWW, ihrer Stärken und ihrer Schwächen im Verhältnis zu den sie verdrängenden Kräften zur Verfügung zu stellen, ist der einzige Weg, ihrer Poesie auch heute Wirksamkeit zu verschaffen.

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